Am 10. und 11. Juli 2018 jährte sich die Fachtagung „Wissenschaft trifft Praxis“, die das IAB gemeinsam mit der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit ausrichtet, zum 11. Mal. Dass das Interesse an einem intensiven Austausch zwischen Forschern und Praktikern ungebrochen ist, zeigte sich nicht zuletzt an den vollbesetzten Stuhlreihen im Konferenzzentrum der Bundesagentur.

Unter der Überschrift „Arbeitswelt im Wandel“ diskutierten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Arbeitsverwaltung darüber, welche Folgen aktuelle und künftige Entwicklungen in der Arbeitswelt haben – vom technologischen Fortschritt über Globalisierung, Strukturwandel, demografische Alterung bis hin zu veränderten Wertvorstellungen über die Rolle der Frau – für Beschäftigte, Betriebe und die Gesellschaft. Besonders im Fokus standen dabei die Gesundheit von Beschäftigten, der Wandel der Arbeitsorganisation, die Entwicklung neuer Erwerbsformen und die Implikationen für sozialstaatliche Institutionen (die freigegebenen Vortragsfolien finden Sie hier).

Holsboer: „Ich lebe auch, während ich arbeite“

Valerie Holsboer, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit (BA)

Valerie Holsboer, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit

In ihrer kurzen Begrüßungsrede sparte Valerie Holsboer, als Vorstandsmitglied für Personal und Finanzen der Bundesagentur für Arbeit (BA) zuständig und vormals Vertreterin der Arbeitgeber im Verwaltungsrat, nicht mit lobenden Worten über die Themen und das Format der Veranstaltung. „Begegnung schafft Bewegung“, zeigte sie sich überzeugt. Auch die Tatsache, dass die Veranstalter das weite Thema „Wandel der Arbeitswelt“ nicht auf den zweifellos wichtigen Aspekt der Digitalisierung beschränkt wissen wollten, fand ihre ungeteilte Zustimmung. Auch wenn Holsboer in ihrer knapp bemessenen Redezeit kaum näher auf inhaltliche Aspekte eingehen konnte, versäumte sie es nicht, ihrer Skepsis gegenüber dem häufig gebrauchten Schlagwort von der „Work-Life-Balance“ Ausdruck zu verleihen. Denn dieser lege einen falschen Gegensatz zwischen Leben und Arbeit nahe. Stattdessen gelte für sie die Devise: „Ich lebe auch, während ich arbeite“.

Möller: Polarisierung des Beschäftigungswachstums

In seinem Einführungsvortrag konzentrierte sich Prof. Joachim Möller, Direktor des IAB, auf die Themen „Arbeitszeit/Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, „Arbeiten von zu Hause aus“, „Veränderung der Anforderungen“ sowie „Digitalisierung der Arbeitswelt“. Mit Blick auf den ersten Themenkomplex machte Möller auf das sog. Zeitparadoxon aufmerksam: Obwohl Deutschland im internationalen Vergleich eine sehr niedrige, tendenziell sogar sinkende durchschnittliche Jahresarbeitszeit aufweise, nehme der „gefühlte“ Zeitstress zu. Einer der vielen Gründe für dieses Phänomen ist laut Möller die unausgewogene Zeitverteilung. So gebe es nicht wenige Beschäftigte, die – zumindest aus ihrer eigenen Sicht – entweder über- oder unterbeschäftigt sind.

Auch beim Thema Homeoffice ist der Vergleich mit anderen Ländern aufschlussreich: In Deutschland arbeitet nur ein Zehntel aller Beschäftigten auch von zu Hause aus – weit weniger als im EU-Durchschnitt, der bei 15 Prozent liegt. In Ländern wie Holland, Schweden und Dänemark sind es sogar über 30 Prozent. Besonders auffällig: Anders als in allen anderen EU-Staaten liegt der Anteil in Deutschland sogar noch unter dem Wert des Jahres 2009.

Eine Spitzenposition nimmt Deutschland hingegen beim Einsatz von Robotern ein. Zwischen 1994 und 2014 legte die Zahl der Roboter je 1000 Beschäftigte hierzulande von knapp zwei auf über sieben zu – etwa drei Mal so viel wie im EU-Durchschnitt und gut vier Mal so viel wie in den USA.

Ein weiterer interessanter Befund, den Joachim Möller präsentierte, betrifft die in den letzten Jahren zu beobachtende Polarisierung des Beschäftigungswachstums. Zwischen 2012 und 2016 wuchs die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung insgesamt um 11,7 Prozent. Auffällig ist allerdings, dass die Beschäftigungszunahme im mittleren Qualifikationssegment (Fachkräfte und Spezialisten) mit 5,8 bzw. 8,5 Prozent unterdurchschnittlich ausfiel. Demgegenüber legten die Helferberufe um 13,4 Prozent zu, die Zahl der Experten sogar um stolze 40,4 Prozent.

Pfeiffer: Doing 4.0 – wer macht eigentlich die neue Arbeitswelt?

Prof. Dr. Sabine Pfeiffer, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Prof. Dr. Sabine Pfeiffer von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Prof. Sabine Pfeiffer, Arbeitssoziologin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, setzte sich in ihrer Keynote kritisch mit einigen Studien zu den Beschäftigungseffekten der Digitalisierung auseinander – insbesondere solchen, die einen regelrechten Stellenkahlschlag in der Industrie prognostizieren. Denn diese fußten auf der falschen Annahme, dass es sich bei Tätigkeiten in diesem Bereich überwiegend um Routinetätigkeiten handle, die relativ leicht ersetzbar seien. Tatsächlich handle es sich aber vielfach um Tätigkeiten, die mit überdurchschnittlichen Anforderungen beim Umgang mit Wandel, Komplexität und Unwägbarkeiten verbunden seien.

An die Unternehmen richtete die gelernte Werkzeugmacherin die Forderung, bei der Gestaltung des digitalen Wandels viel stärker als bisher auf die entsprechenden Kompetenzen der Beschäftigten vor Ort zu setzen. Diese seien oft viel mehr an Innovation interessiert als häufig unterstellt.

Ein Videocast ihres Vortrags finden Sie hier:

 

Sliwka: Das Design von Vergütungssystemen. Was lehrt die empirische Forschung?

Prof. Dr. Dirk Sliwka, Universität zu Köln

Prof. Dr. Dirk Sliwka von der Universität zu Köln

Als zweiten Keynotespeaker hatten die Veranstalter Prof. Dirk Sliwka eingeladen, Personalökonom an der Universität zu Köln. Anhand zahlreicher empirischer Beispiele zeigte Sliwka auf, dass Bonuszahlungen in Unternehmen keineswegs zwangsläufig dazu führen, Zufriedenheit und Leistungsbereitschaft der Beschäftigten zu erhöhen, denn diese bewerten Bonuszahlungen in der Regel nicht nach ihrer absoluten Höhe, sondern relativ zu Referenzpunkten („Was ist der Bonus meines Kollegen?“,  „Wie hoch ist der Bonus im Verhältnis zu meinen Erwartungen?“). Um ihre intendierten Wirkungen zu erreichen, müssten Vergütungssysteme sorgfältig und situationsangemessen konzipiert werden.

Ein Videocast seines Vortrags finden Sie hier:

 

 

Workshop I: Gesund arbeiten bis zur Rente“ (Moderation: Dr. Carola Burkert, IAB)

Prof. Dr. Hans Martin Hasselhorn /Bergische Universität Wuppertal, Dr.-Ing. Axel Korge /Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, Moderatorin Dr. Carola Burkert /IAB und Prof. Dr. Joachim Fischer /Mannheim Institute of Public Health (v.l.n.r.)

Workshop-I-Referenten (von links): Prof. Dr. Hans Martin Hasselhorn von der Bergischen Universität Wuppertal, Dr.-Ing. Axel Korge vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, Moderatorin Dr. Carola Burkert vom IAB und Prof. Dr. Joachim Fischer vom Mannheim Institute of Public Health.

Hasselhorn: Gesund (!) arbeiten bis 67 – wird das gut gehen?

Laut Prof. Martin Hasselhorn, Inhaber eines Lehrstuhls für Arbeitswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal, sind bereits heute viele Menschen trotz gesundheitlicher Einschränkungen erwerbstätig. Demnach geht es bei der Antwort auf die Frage, wie lange diese Menschen erwerbstätig sein können und wollen, keineswegs nur um den Aspekt der Gesundheit. Als weitere wesentliche Einflussfaktoren, die gerade in einer sich rapide wandelnden Arbeitswelt gestärkt werden müssten, nannte Hasselhorn Arbeitsfähigkeit und Arbeitsmotivation der Beschäftigten.

Fischer: Chancen und Risiken für die Arbeitsfähigkeit bei älteren Arbeitnehmern in der Industrie. Daten aus der Mannheimer Kohortenstudie

Prof. Joachim Fischer, Direktor des Mannheim Institute of Public Health, beschäftigte sich in seinem Vortrag mit den arbeitsbedingten Faktoren, die die Arbeitsfähigkeit im letzten Drittel des Berufslebens  beeinflussen. Günstig wirken sich laut Fischer etwa körperliche Fitness,  eine als sinnhaft empfundene Tätigkeit sowie ein als positiv wahrgenommenes  wertschätzendes Führungsverhalten aus. Fischer stützt sich in seinen Analysen auf die Mannheimer Kohortenstudie, bei der insgesamt über 40.000 Beschäftigte aus Industrieunternehmen in Deutschland zu Arbeitsbedingungen und zur Selbsteinschätzung ihrer Arbeitsfähigkeit befragt werden. Dabei werden über 7.000 Teilnehmer im Längsschnitt, also über einen längeren Zeitraum hinweg, befragt.

Korge: Trends und deren Potenziale für ältere Beschäftigte

Dr. Axel Korge, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart, machte in seinem Vortrag deutlich, dass Unternehmen in einem sich vielfach und laufend verändernden Umfeld – geprägt durch Digitalisierung, Globalisierung, demografischen Wandel oder auch gesellschaftlich Trends – agieren müssen. Dabei gilt es, die Arbeitsfähigkeit und die Motivation der Beschäftigten bis zur Rente zu erhalten. Dazu zählte Korge Faktoren wie „gesunde Arbeit“, lebenslanges Lernen und attraktive Arbeitsbedingungen.  Zudem bedürfe es möglichst selbständiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die flexibel genug agieren können, um der zunehmenden Komplexität der Anforderungen gerecht zu werden. Am Beispiel von vier Zukunftsbildern zeigte Korge die Möglichkeiten zur Gestaltung alter(n)sgerechter Arbeit auf. „Die Zukunft der Arbeit steht nicht fest, sie kann und muss strategisch ausgerichtet werden.“

In der anschließenden Diskussion bestand Einigkeit darüber, dass gesundes Arbeiten bis zur Rente eine entsprechend aktive Gestaltung der Arbeitswelt schon für jüngere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter voraussetzt.

Workshop II: Wandel der Arbeitsorganisation (Moderation: Stefanie Wolter, IAB)

Grezech-Sukalo: Arbeitszeit bei mobiler Arbeit – (k)ein Thema?

Hiltraud Grzech-Sukalo von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Hiltraud Grzech-Sukalo von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Beruflich verordnete Mobilität in Form von Dienstreisen und Außendienst ist eine Herausforderung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz. Zu diesem Ergebnis kommt Hiltraud Grzech-Sukalo, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, auf Basis von Befunden aus dem Forschungsprojekt “prentimo” (präventionsorientierte Gestaltung mobiler Arbeit).  Demnach empfänden Beschäftigte, die für Ihren Arbeitgeber tageweise oder länger am Stück verreisen, das Unterwegssein zwar als positiv, bemängelten aber, dass Mobilität auch ein Belastungsfaktor sei, der als solcher zu wenig wahrgenommen werde. Arbeitszeiten seien zum Teil nur schwer planbar, es werde gegen Arbeits- und Ruhezeiten verstoßen, teils würden Arbeitszeiten nicht dokumentiert. Bei Beschäftigten, die länger am Stück unterwegs sind, komme hinzu, dass soziale Kontakte nur schwer gepflegt werden könnten.

Stowasser: Führung in der Arbeitswelt der Zukunft

Prof. Dr. Sascha Stowasser vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft

Prof. Dr. Sascha Stowasser vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft

Mit der Frage, wie Führung in der Arbeitswelt der Zukunft aussehen sollte, befasste sich Prof. Sascha Stowasser, Direktor des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft in Düsseldorf. Die Arbeitswelt werde für Beschäftigte und Führungskräfte in vielfacher Hinsicht flexibler. Dies betreffe Arbeitszeit, Arbeitsort, Arbeitsorganisation, aber auch die Handlungsfreiheiten des Einzelnen. Die Führungskraft von morgen sei nicht der alles lenkende Patriarch, sondern eher ein Coach für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es gehe auch darum,  loslassen zu können sowie Aufgaben und Verantwortung zu delegieren, denn in der Arbeitswelt der Zukunft zählten nicht mehr das Führen durch Anwesenheit, sondern das Führen durch Zielerreichung. Die Führungskraft  nehme zudem stärker als bisher eine Vorbildfunktion ein.

Tirpitz: Arbeit als denk_frei_raum

Alexander Tirpitz vom EO-Institut

Alexander Tirpitz vom EO-Institut

Abschließend kam Alexander Tirpitz zu Wort, Geschäftsführer des EO Instituts (EO steht für Entwicklung von und in Organisationen) – ein Institut, das private und öffentliche Arbeitgeber bei der Umsetzung flexibler Arbeitsorganisation berät. In seinem Vortrag präsentierte Tirpitz die Arbeitsorganisation seines Instituts, die in vielfacher Hinsicht auf neue Formen der Zusammenarbeit setzt. Die 14 Beschäftigten arbeiten zeitlich und räumlich sehr flexibel, unter anderem per Videotelefon. Dank eines regelmäßigen Feedbacks der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur aktuellen Arbeitsbelastung ist sichergestellt, dass der einzelne Beschäftigte nicht aus dem Blick gerät. Die Leitgedanken der Arbeitsorganisation, wie sie auch im Vortragstitel („Arbeit als denk_frei_raum“) zum Ausdruck kommen, fasste Tirpitz wie folgt zusammen:

  • denk – Nachdenken und Konzepte und Ideen entwickeln
  • frei – frei von zeitlichen und räumlichen Grenzen
  • raum – gegenseitiges Vertrauen und klare Abgrenzung.

Dabei basiert die Unternehmensführung laut Tirpitz auf dem Prinzip „klare, strikte Regeln bei maximaler Freiheit und Eigenverantwortung“.

Workshop III „Erwerbsformen der Zukunft“ (Moderation: Dr. Stefanie Gundert, IAB)

Workshop-Referenten (v.l.n.r): Patrick Stadlmayer von Tandemploy, Dr. Lena Hünefeld von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Prof. Dr. Holger Bonin vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit

Workshop-III-Referenten (von links): Patrick Stadlmayer von Tandemploy, Dr. Lena Hünefeld von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Prof. Dr. Holger Bonin vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit.

Bonin: Crowdwork, Gig Work, Mobile Work – neue Freiheiten oder neue Abhängigkeiten?

Neue digitale Technologien und die fortschreitende globale Vernetzung tragen auch zu einem Wandel der Erwerbsformen bei. Prof. Holger Bonin, Forschungsdirektor am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, präsentierte in seinem Vortrag aktuelle empirische Befunde zur Entwicklung online erbrachter beziehungsweise durch Internetplattformen vermittelter Erwerbsarbeit. In Deutschland, erklärte Bonin, werden Plattformtätigkeiten in der Regel als Nebenerwerb ausgeübt und bilden derzeit noch ein Randphänomen. Das Spektrum reicht von einfachen Aufträgen wie Dateneingabe oder Produkttests bis hin zu hochqualifizierten Dienstleistungen im Bereich Softwareentwicklung. Der Vortrag behandelte das Spannungsfeld zwischen den Chancen (zum Beispiel höhere Inklusion durch Flexibilität des Arbeitsortes, verbessertes Matching zwischen Arbeitsuchenden und Auftraggebern) und Risiken von Plattformarbeit (zum Beispiel Unterlaufen von Arbeitsstandards, Risikoverlagerung auf Erwerbstätige, fehlende soziale Absicherung). Abschließend forderte Bonin eine stärkere gesetzliche Regulierung der Arbeitsbedingungen für Plattformarbeit auf nationaler und internationaler Ebene.

Hünefeld: Solo-Selbstständigkeit – Chancen und Risiken einer vielfältigen Erwerbsform

Dr. Lena Hünefeld, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, präsentierte in ihrem Vortrag qualitative Forschungsergebnisse zur Arbeits- und Gesundheitssituation von Solo-Selbständigen. Diese trügen bei ihrer Tätigkeit Verantwortung für Aufgabenplanung, Zeitmanagement, persönlichen und wirtschaftlichen Erfolg und können in hohem Maße selbstbestimmt arbeiten. Andererseits seien sie mit bestimmten Anforderungen und Belastungen konfrontiert, die sich aus den jeweiligen beruflichen Tätigkeiten, dem Marktumfeld und dem privaten Lebenskontext ergeben. Sie betonte, dass Solo-Selbständige insbesondere dann eine hohe Arbeitszufriedenheit und einen guten Gesundheitszustand aufweisen, wenn sie diese Erwerbsform freiwillig für sich gewählt haben. Außerdem wirkten sich Einkommenssicherheit und eine hohe Passung von inneren Zielen und äußeren Bedingungen vorteilhaft aus. Sie diagnostizierte eine Polarisierung der Arbeitsbedingungen zwischen gering und hoch qualifizierten Solo-Selbständigen – eine Tendenz, die sich ihrer Einschätzung nach durch die Digitalisierung noch verschärfen könnte.

Stadlmayr: Neues Arbeiten im digitalen Zeitalter

Einen praktischen Ansatz zur Einführung neuer Arbeits- und Organisationsmodelle in Unternehmen präsentierte Patrick Stadlmayr, Mitarbeiter des Berliner Unternehmens Tandemploy. Der Ansatz zielt darauf ab, die Expertise der Beschäftigten strukturübergreifend zusammenzuführen, etwa für Projektarbeit, Mentoring oder Job-Sharing. Dabei unterstützt Tandemploy seine Kunden mit einer Plattform-Software, deren Matching-Algorithmus Beschäftigte zusammen bringt und dabei deren Qualifikationen, Kompetenzen, Interessen und soft skills berücksichtigt. Stadlmayr betonte, dass neue Technologien den Strukturwandel in Unternehmen befördern, nicht aber den kulturellen Wandel ersetzen könnten, der Voraussetzung für die Einführung flexiblere Arbeitsweisen in Unternehmen ist.

Workshop IV: Soziale Sicherung in der digitalen Gesellschaft (Moderation: Dr. Florian Lehmer, IAB)

Borggräfe: Vorsorgende und befähigende Arbeitsmarktpolitik – Wissen als Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit im digitalen Wandel

Dr. Julia Borggräfe vom Bundesministerium für Arbeit und Sozial (BMAS)

Dr. Julia Borggräfe vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Dr. Julia Borggräfe, Leiterin der Abteilung „Digitalisierung und Arbeitsmarkt“ im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), beleuchtete zunächst die Herausforderungen für die Arbeitswelt im digitalen und demografischen Wandel – beispielsweise das Problem der Fachkräftesicherung. Der digitale Wandel erfordere neue Kompetenzprofile. Neben digitalen Kompetenzen würden vor allem social skills wichtiger – etwa die Kompetenz, Probleme zu lösen, selbstständig zu arbeiten sowie Management-und Koordinierungsfähigkeiten. Borggräfe plädierte dafür, den Bildungsbegriff ganzheitlich zu begreifen, da viele dieser sozialen Kompetenzen schon in frühkindlicher Bildung erworben würden. Mit Blick auf das Ziel, die Beschäftigungsfähigkeit des Arbeitskräftepotenzials im digitalen Wandel zu erhalten, forderte sie ein detailliertes Fachkräftemonitoring, eine Qualifizierungsoffensive und eine Nationale Weiterbildungsstrategie. Die Verzahnung und Bündelung von Bildungs- und Weiterbildungsangeboten sei dabei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Zofall: Lebensbegleitende Berufsberatung – Bericht aus der Pilotierungspraxis

Mark-Cliff Zofall, BA

Mark-Cliff Zofall, BA

Mark-Cliff Zofall, Leiter des Projekts Lebensbegleitende Berufsberatung (LBB) in der BA, berichtete aus der Pilotierungspraxis des Projekts. Das Projekt LBB wurde im März 2017 in den Agenturen Düsseldorf, Kaiserslautern-Pirmasens und Leipzig eingeführt. Seit Januar 2018 wird zusätzlich in der Agentur Regensburg die Beratung im Erwerbsleben in intensivierter Kooperation mit den Arbeitgebern erprobt. Als die drei Bausteine der LBB nannte Zofall die „Beratung vor dem Erwerbsleben“, die „Beratung im Erwerbsleben“ sowie ein Selbsterkundungstool zur besseren Einschätzung der eigenen Stärken und Interessen. Angesichts der zunehmenden Häufigkeit von Berufswechseln und Entscheidungspunkten für die berufliche Zukunft sollen die Menschen durch diese Bausteine befähigt werden, bessere, wertigere Entscheidungen treffen zu können – was wiederum deren Beschäftigungsfähigkeit stärke.

Podiumsdiskussion (Moderation: Britta Beeger, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

In der anschließenden Podiumsrunde wurden die Ergebnisse und Erkenntnisse aus den vier Workshops von Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Arbeitsverwaltung und Wissenschaft sowie der Sozialpartner diskutiert. Dabei ging es neben dem Themenkomplex „Digitalisierung und Weiterbildung“ vor allem um die Frage, wie sich das Arbeitsmarktpotenzial der Älteren noch besser als bisher ausschöpfen lässt.

IAB-Vizedirektor Prof. Dr. Ulrich Walwei

IAB-Vizedirektor Prof. Dr. Ulrich Walwei

Mit Blick auf das Thema Digitalisierung wies IAB-Vizedirektor Dr. Ulrich Walwei darauf hin, dass nach Analysen des IAB zwar in allen Qualifikationsgruppen Substituierbarkeitspotenziale bestehen, diese aber bei Geringqualifizierten deutlich größer sind als bei Hochqualifizierten. Es gelte daher, die Entstehung von Ausbildungsarmut zu verhindern und der Entwertung von Humankapital entgegenzuwirken. Jörg Kunkel, Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), sieht im Bereich der chemischen Industrie vor allem die kaufmännischen Berufe durch die Digitalisierung gefährdet.

Für Julia Borggräfe ist lebenslanges Lernen die wichtigste Antwort auf die Herausforderungen der Digitalisierung. Dies müsse ein ganz normaler Teil der Berufsbiografie werden. Die Fähigkeit und Bereitschaft dazu würde aber schon im frühkindlichen Alter gelegt. Zudem nehme mit der wachsenden Bedeutung agiler Unternehmensstrukturen auch die Bedeutung sozialer Kompetenzen zu. Auch die Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sei für die Gestaltung der digitalen Transformation wichtig.

Peter Haas von Südwesttextil e.V.

Peter Haas von Südwesttextil e.V.

Peter Haas, Vertreter des Arbeitgeberverbandes Südwesttextil, betonte, dass berufliche Weiterbildung idealerweise betrieblich begleitet sei, da dies die beste Gewähr für den Praxisbezug von Weiterbildung böte. Die Unternehmen seien auf diesem Feld stark engagiert.

Mit Blick auf die potenzielle Rolle der BA als „Arbeitsversicherung“ warnte Vorstandsmitglied Valerie Holsboer vor einer Diskussion um Schlagworte, die nur zu langwierigen Grabenkämpfen führe, ohne Verbesserungen in der Sache zu bewirken. Sie betonte, dass die Bundesagentur schon immer den Auftrag gehabt habe, Arbeitslose und Beschäftigte zu beraten.

Die Motivation, sich beruflich weiterzubilden, sollte sich aus Sicht von Holsboer weniger daraus ergeben, diese schnellstmöglich in monetären Gewinn umzumünzen, sondern primär und zuerst aus dem damit verbundenen Erkenntnisgewinn. Demgegenüber betonten die anderen Diskutanten in stärkerem Maße, dass sich Weiterbildung auch finanziell lohnen müsse. So wies Walwei darauf hin, dass viele Arbeitslose sich auch deswegen nicht weiterbilden, weil es sich aus deren Sicht finanziell nicht auszahlt.

Barbara Kauffmann von der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration (Europäische Kommission)

Barbara Kauffmann von der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration der Europäischen Kommission

Auch Barbara Kaufmann, Direktorin der Abteilung „Beschäftigungs- und sozialpolitische Steuerung“ der Europäischen Kommission, hält es für wichtig, dass sich Investitionen in Weiterbildung monetär auszahlen. Neben der Weiterbildung sieht Kaufmann eine wichtige Herausforderung für die Zukunft darin, das Arbeitskräftepotenzial weiter zu erhöhen. Aus diesem Grund habe die Europäische Kommission Deutschland beispielsweise aufgefordert, die finanziellen Arbeitsanreize für Zweit- und Geringverdiener zu verbessern.

Einig war sich die Runde im Prinzip darin, auch das Potenzial der Älteren noch besser ausgeschöpft werden kann. So wies Ulrich Walwei darauf hin, dass Beschäftigte heute zwar länger in Arbeit bleiben als früher, sich aber die Einstiegschancen für ältere Arbeitslose kaum verbessert hätten. Um die Lebensarbeitszeit weiter zu verlängern, brauche es mehr Flexibilität – sowohl mit Blick auf die Übergänge zwischen Arbeitsleben und Ruhestand, als auch mit Blick auf die Tätigkeiten. Als mögliches Vorbild nannte Walwei Japan, wo ältere Beschäftigte häufig auch in andere Tätigkeiten oder zu anderen Arbeitgebern wechseln.

Jörg Kunkel von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE)

Jörg Kunkel von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE)

Gewerkschafter Kunkel sieht das Haupthindernis dafür, dass viele Beschäftigte nicht länger arbeiten, vor allem darin, dass die berufliche Belastung in vielen Fällen schlicht zu hoch sei. Martin Hasselhorn, der sich aus dem Publikum heraus zu Wort meldete, betonte, dass die Betriebe auch die Rahmenbedingungen dafür verbessern müssen, dass die Beschäftigten länger arbeiten wollen. Um dies zu erreichen, müssten die Unternehmen frühzeitig dafür sorgen, die Bindung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an das Unternehmen zu stärken.

Weitere Informationen:

  • Hörfunkbeitrag des Bayerischen Rundfunks zur Tagung mit Statements von Patrick Stadlmayr, Hiltraud Grzech-Sukalo und Holger Bonin finden Sie hier (ab 18:52).
  • Freigegebene Vortragsfolien
  • Interview mit den Tagungsorganisatorinnen Dr. Stefanie Gundert und Stefanie Wolter (weitere Interviews zum Wandel der Arbeitswelt erscheinen sukzessive bis Ende 2018 unter www.iab-forum.de)

Ein Videocast mit Impressionen der Veranstaltung sehen Sie hier:

 

Fotos: IAB/Jutta Palm-Nowak

 

Schludi, Martin (2018): Fachtagung „Wissenschaft trifft Praxis“ zum Wandel der Arbeitswelt, In: IAB-Forum 24. Juli 2018, https://www.iab-forum.de/fachtagung-wissenschaft-trifft-praxis-zum-wandel-der-arbeitswelt/, Abrufdatum: 26. April 2024