Neben der Tarifbindung verliert in Deutschland auch die betriebliche Mitbestimmung weiter an Bedeutung. Nur noch 41 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Betrieben mit Branchentarifvertrag. Etwa 43 Prozent aller Beschäftigten werden in ihrem Betrieb von einem Betriebs- oder Personalrat vertreten.

Zwei Säulen tragen das deutsche System der Arbeitsbeziehungen: die Tarifautonomie und die betriebliche Interessenvertretung durch Betriebs- und Personalräte. Überbetriebliche Branchen- oder Branchentarifverträge spielen eine wesentliche Rolle bei der Regelung von Arbeitsbedingungen und bei der Lohnfindung. Sie werden meist für Regionen und Branchen ausgehandelt und sorgen für einheitlichere Wettbewerbsbedingungen für die Betriebe und höhere Verlässlichkeit für die Beschäftigten.

Löhne und Arbeitsbedingungen können auch auf Unternehmensebene mit Gewerkschaften in sogenannten Firmen- oder Haustarifverträgen oder in individuellen Arbeitsverträgen vereinbart werden. Individuelle Arbeitsverträge werden vor allem in kleineren Betrieben geschlossen. Für größere Firmen wird der Verwaltungsaufwand schnell zu groß, wenn mit jedem einzelnen Beschäftigten ein Arbeitsvertrag verhandelt werden muss. Für diese Firmen sind deshalb Firmentarifverträge eine interessante Alternative. Im Arbeitsrecht haben Tarifverträge in der Regel Vorrang gegenüber Betriebsvereinbarungen und Einzelarbeitsverträgen. Sie können deshalb auch als Mindestarbeitsbedingungen interpretiert werden.

Seit Beginn der Erhebung im Jahr 1996 sinkt der Anteil an Beschäftigten im Branchentarif

Das IAB-Betriebspanel erhebt jährlich seit 1996 Informationen zur Tarifbindung und zur betrieblichen Interessenvertretung – für West- und für Ostdeutschland und über alle Wirtschaftszweige und Größenklassen hinweg. Seit 1999 erfassen die Daten auch Betriebe, die sich freiwillig an einem Branchentarifvertrag orientieren.

Seit Beginn der Erhebung zeigt die Branchentarifbindung in den alten wie in den neuen Bundesländern eine rückläufige Tendenz. In der Gesamtwirtschaft sank der Anteil der Beschäftigten in branchentarifgebundenen Betrieben von 1996 bis 2022 in Westdeutschland um 26 Prozentpunkte, in Ostdeutschland – ausgehend von einem deutlich niedrigeren Niveau – um 23 Prozentpunkte (siehe Abbildung 1). Diese Entwicklung ist weitestgehend auf den Rückgang der Branchentarifbindung in der Privatwirtschaft zurückzuführen, denn die Branchentarifbindung im öffentlichen Sektor blieb im betrachteten Zeitraum weitgehend stabil.

Abbildung 1 zeigt die Entwicklung die Anteile an Beschäftigten in Betrieben mit branchentarifgebundenen Verträgen in Prozent. Im betrachteten Zeitraum von 1996 bis 2022 sind die Anteile in den alten und neuen Bundesländern rückläufig. In Westdeutschland sank der Anteil um rund 27 Prozent auf 43 Prozent. In Ostdeutschland fiel der Anteil um 23 Prozentpunkte auf rund 33 Prozent ab. Quelle: IAB-Betriebspanel

Tarifabdeckung variiert stark nach Region und Betriebsgröße

Im Jahr 2022 arbeiteten hochgerechnet rund 43 Prozent der westdeutschen und etwa 33 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in einem Betrieb, der einem Branchentarifvertrag unterlag. Firmentarifverträge galten für 9 Prozent der westdeutschen und 12 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten (siehe Tabelle).

Die Tabelle zeigt die Anteile der Tarifbindung in Betrieben und bei Beschäftigten in Gesamt, West- und Ostdeutschland in Prozent. Im Jahr 2022 richteten sich rund 23 Prozent der Betriebe nach Branchentarifen. Der Großteil war mit rund 75 Prozent nicht an Tarife gebunden. Insgesamt arbeiten rund 41 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Branchentarifverträgen und 49 Prozent in Betrieben ohne Tarifbindung. Bei circa der Hälfte der Beschäftigten ohne Tarifverträge orientierten sich die Betriebe am Branchentarif. Quelle: IAB-Betriebspanel

Noch kleiner fällt der Anteil der Betriebe aus, die tarifgebunden sind: Lediglich rund 24 Prozent der Betriebe im Westen und rund 16 Prozent der Betriebe im Osten sind durch Branchentarifverträge gebunden. Haus- oder Firmentarifverträge gelten wiederum nur für 2 Prozent der Betriebe in West- und 3 Prozent in Ostdeutschland. Alle anderen, also etwa 73 Prozent der westdeutschen und 82 Prozent der ostdeutschen Betriebe, sind nicht tarifgebunden. Dabei handelt es sich vor allem kleinere Betriebe, von denen es naturgemäß sehr viel mehr gibt als große: Etwa drei von vier Betrieben beschäftigen laut IAB-Betriebspanel weniger als zehn Personen. Gerade in solchen Kleinbetrieben spielen Branchentarifverträge eine untergeordnete Rolle, während große Betriebe mit über 200 Beschäftigten mehrheitlich tarifgebunden sind. Auch die Bedeutung von Haus- und Firmentarifverträgen nimmt mit steigender Betriebsgröße zu. Insbesondere in den ostdeutschen Großbetrieben sind sie von Bedeutung.

Tariforientierung reicht qualitativ nicht an Tarifbindung heran

Für rund 48 Prozent der westdeutschen und 55 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten gab es im Jahr 2022 keinen Tarifvertrag. Rund die Hälfte davon wurde jedoch indirekt von Tarifverträgen erfasst, da sich ihre Arbeitgeber nach eigenen Angaben an den jeweiligen Branchentarifverträgen orientierten (siehe Tabelle 1). Allerdings lehnt sich nur ein Teil dieser Betriebe in allen relevanten Punkten – etwa bei Weihnachts- oder Urlaubsgeld, Arbeitszeiten oder der Dauer des Jahresurlaubs – an den jeweiligen Branchentarif an, und gewährt auch der Mehrheit seiner Beschäftigten eine Bezahlung nach Tariflohn. Nur in diesen Betrieben dürften die Beschäftigten also Arbeitsbedingungen vorfinden, die mit denen in branchentarifgebundenen Betrieben annähernd vergleichbar sind. Nach Auswertungen des IAB-Betriebspanels 2020 durch Peter Ellguth und Susanne Kohaut traf dies im Westen auf rund 23 Prozent und im Osten auf rund 13 Prozent der nicht tarifgebundenen Betriebe zu.

Betriebe mit Tarifvertrag und betrieblicher Mitbestimmung haben weniger offene Stellen zu besetzen

Neben der Tarifbindung ist die betriebliche Mitbestimmung durch Betriebs- oder Personalräte die zweite Säule des deutschen Systems der Arbeitsbeziehungen. Hier ist zu berücksichtigen, dass das Betriebsverfassungsgesetz erst ab einer Betriebsgröße von fünf Beschäftigen Anwendung findet. In etwa sechs von zehn Betrieben ist dies nicht der Fall, da sie nach Auswertungen des IAB-Betriebspanels unterhalb dieser Schwelle liegen. Da jedoch lediglich etwa 7 Prozent aller Beschäftigten in diesen Kleinstbetrieben tätig sind, hat dennoch ein Großteil der Beschäftigten – zumindest theoretisch – einen Anspruch auf Gründung eines Betriebsrates.

Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der Anteile an Beschäftigten in Betrieben mit Betriebs- oder Personalrat im Zeitraum von 1996 bis 2022 in Prozent. In den Jahren 2021 und 2022 arbeiteten etwa 43 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebs- oder Personalrat. In diesen beiden Jahren zeigte die betriebliche Mitbestimmung keinen weiteren Rückgang. In der ostdeutschen Privat- sowie Gesamtwirtschaft ist der Anteil sogar leicht gestiegen. Quelle: IAB-Betriebspanel

In den Jahren 2021 und 2022 arbeiteten etwa 43 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebs- oder Personalrat. In diesen beiden Jahren zeigte die betriebliche Mitbestimmung keinen weiteren Rückgang. In der ostdeutschen Privatwirtschaft hat sie zuletzt sogar an Bedeutung gewonnen (siehe Abbildung 2).

Aus Sicht der Wissenschaft hat die betriebliche Mitbestimmung klare Vorteile, gerade im Hinblick auf den zunehmenden Arbeits- und Fachkräftemangel: Betriebe mit Betriebsrat weisen im Durchschnitt eine höhere Produktivität auf, haben weniger Personalfluktuation, bieten höhere Löhne und mehr Arbeitszeitflexibilität. Dies zeigt unter anderem eine 2018 publizierte Studie von Uwe Jirjahn und Stephen Smith.

Es ist daher nicht überraschend, dass sowohl in Betrieben mit Betriebsrat als auch in solchen mit Tarifbindung der Anteil unbesetzter Stellen geringer ist als in anderen Betrieben (siehe Abbildung 3). Auch wenn betriebliche Strukturmerkmale wie Branchenzugehörigkeit, Betriebsgröße, Region und betriebliche Durchschnittlöhne berücksichtigt werden, bleiben diese Zusammenhänge bestehen. Dies spricht dafür, dass sich diese Betriebe leichter tun, ihre Stellen zu besetzten. In einem Arbeitsmarkt, in dem Beschäftigte zunehmend die Möglichkeit haben, sich zwischen Stellen zu entscheiden, dürften demzufolge Tarifverträge und betriebliche Mitbestimmungsmöglichkeiten mit einem Wettbewerbsvorteil einhergehen.

Abbildung 3 zeigt den Anteil offener Stellen an der betrieblichen Gesamtbeschäftigung im Zeitraum von 2009 bis 2022 in Prozent. Zusätzlich wird zwischen zwei Arten von Betrieben unterschieden: Betriebe die einer Tarifbindung unterliegen und/oder einen Betriebs- oder Personalrat haben, sowie Betrieben ohne Tarifbindung/ ohne Betriebs- oder Personalrat. Seit 2009 ist der Anteil unbesetzter Stellen in Betrieben mit Betriebsrat als auch in solchen mit Tarifbindung geringer ist als in anderen Betrieben. Quelle: IAB-Betriebspanel

Fazit

In Ost- wie in Westdeutschland sind Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung durch Betriebs- und Personalräte seit Jahren tendenziell rückläufig, wenn auch mit leichten Stabilisierungstendenzen in Ostdeutschland. Mittlerweile arbeiten 41 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben, die weder tarifgebunden sind, noch über eine gesetzlich verankerte betriebliche Mitbestimmung verfügen (siehe Abbildung 4).

Abbildung 4 zeigt die Entwicklung der Anteile von Beschäftigten in Betrieben ohne Tarifbindung und ohne Betriebs- oder Personalrat in Prozent. Insgesamt sind Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung durch Betriebs- und Personalräte im Zeitraum von 1996 bis 2022 rückläufig, mit leichten Stabilisierungstendenzen in Ostdeutschland ab 2013. Aktuell arbeiten gut 40 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben, die weder tarifgebunden sind, noch über eine gesetzlich verankerte betriebliche Mitbestimmung verfügen. Quelle: IAB-Betriebspanel

Auch wenn dieser Erosionsprozess schleichend verläuft, ist eine Trendumkehr nicht erkennbar. Die Bundesregierung betrachtet diese Entwicklung mit Sorge und versucht auch aktuell, dem System industrieller Beziehung neues Leben einzuhauchen. So soll die Attraktivität der Tarifbindung über ein Bundestariftreuegesetz gesteigert werden, nach dem Aufträge des Bundes nur noch an Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlen. Das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) schlägt im Sinne einer „doppelten Dividende“ vor, die Einwanderung nach Deutschland zu erleichtern, wenn ein Ausbildungs- oder Arbeitsplatzangebot in einem tarifgebundenen Unternehmen vorliegt. Der zunehmende Arbeitskräftemangel dürfte den Blick der Arbeitgeber dafür schärfen, dass sie im Wettbewerb um begehrte Arbeitskräfte hinreichend attraktive Arbeitsbedingungen bieten müssen. Insofern besteht verhaltene Hoffnung, dass sich Betriebe der Gründung von Betriebsräten und dem Abschluss von Tarifverträgen nicht (mehr) verschließen, wenn sie damit ihre Wettbewerbsposition auf dem kommenden „Arbeitnehmermarkt“ verbessern können.

Das IAB-Betriebspanel

Das IAB-Betriebspanel ist die einzige repräsentative Datenquelle, die jährlich über alle Wirtschaftszweige und Größenklassen hinweg Ergebnisse zu den Institutionen der Interessenvertretung liefert. Seit 1996 werden dort Informationen zur Tarifbindung und zur betrieblichen Interessenvertretung für Deutschland erhoben, so dass sie Betriebe auch über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgt werden können.

Die aktuellen Ergebnisse beruhen auf Angaben von rund 15.000 Betrieben in Ost- und Westdeutschland. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die rund 2,1 Millionen Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Insgesamt sind in diesen Betrieben knapp 40,6 Millionen Personen beschäftigt. Ausführliche Tabellen mit den Ergebnissen der Auswertungen stehen auf der IAB-Website unter „Aktuelle Daten und Indikatoren“ zur Verfügung.

Weitere Informationen zum IAB-Betriebspanel finden Sie bei Ellguth et al. (2014).

In aller Kürze

  • Die Tarifautonomie und die betriebliche Interessenvertretung durch Betriebs- und Personalräte haben in den letzten Jahren beide an Bedeutung verloren.
  • Der Anteil der Beschäftigten in branchentarifgebundenen Betrieben sank von 1996 bis 2022 in Westdeutschland um 26 Prozentpunkte, in Ostdeutschland – ausgehend von einem deutlich niedrigeren Niveau – um 23 Prozentpunkte. Im Jahr 2022 arbeiteten rund 43 Prozent der westdeutschen und etwa 33 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in einem Betrieb mit Branchentarifvertrag. Firmentarifverträge galten für 9 Prozent der westdeutschen und 12 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten.
  • Rund 24 Prozent der Betriebe im Westen und rund 16 Prozent der Betriebe im Osten sind durch Branchentarifverträge gebunden. Haus- oder Firmentarifverträge gelten lediglich für 2 Prozent der Betriebe in West- und drei Prozent in Ostdeutschland. Die erheblich niedrigeren Zahlen bei der Betrachtung nach Betrieben im Vergleich zu den Beschäftigtenanteilen liegen daran, dass vor allem größere Betriebe Tarifverträge abschließen, die Mehrzahl der Betriebe aber klein sind.
  • 2021 und 2022 arbeiteten etwa 43 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebs- oder Personalrat. In diesen beiden Jahren blieb die betriebliche Mitbestimmung recht stabil.

Vertiefende Informationen zum Thema

Ausführliche Tabellen zur Entwicklung der Tarifbindung und betrieblichen Interessenvertretung finden Sie auf der IAB-Website.

Literatur

Ellguth, Peter; Kohaut, Susanne (2021): Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2020, in: WSI-Mitteilungen, Heft 4, S. 306-314.

Ellguth, Peter; Kohaut, Susanne; Möller, Iris (2014): The IAB-Establishment Panel – methodological essentials and data quality, in: Journal for Labour Market Research 47 (1-2), S. 27-41.

Jirjahn, Uwe; Smith, Stephen (2018): Nonunion employee representation: Theory and the German experience with mandated works councils, in: Annals of Public and Cooperative Economics, pp. 201-234

 

doi: 10.48720/IAB.FOO.20230720.01

Hohendanner, Christian; Kohaut, Susanne (2023): Tarifbindung und Mitbestimmung: Keine Trendumkehr in Westdeutschland, Stabilisierung in Ostdeutschland, In: IAB-Forum 20. Juli 2023, https://www.iab-forum.de/tarifbindung-und-mitbestimmung-keine-trendumkehr-in-sicht/, Abrufdatum: 29. April 2024