Bislang hinkt die Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns der Entwicklung der Tariflöhne und der allgemeinen Lohnentwicklung hinterher. Mit der ab Mitte 2022 wirksamen Erhöhung auf 10,45 Euro pro Stunde dürfte dieser Rückstand überwunden werden.

Im Jahr 2015 wurde in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von damals 8,50 Euro pro Stunde eingeführt. Er wurde bis Januar 2021 in vier Stufen auf inzwischen 9,50 Euro erhöht. Bis Ende 2022 sind drei weitere Erhöhungen auf dann 10,45 Euro bereits beschlossen. Die aus Vertreterinnen und Vertretern der Sozialpartner bestehende Mindestlohnkommission berät alle zwei Jahre über eine angemessene Erhöhung, die von der Bundesregierung qua Rechtsverordnung umgesetzt wird.

Laut Mindestlohngesetz soll sich die Kommission bei ihren Empfehlungen an der Entwicklung des Tariflohnindex des Statistischen Bundesamtes orientieren. Dieser Index bildet die durchschnittliche Entwicklung der Tariflöhne aller Branchen in Deutschland ab. Die Orientierung an Tariflöhnen soll als Kriterium zur Setzung des Mindestlohns sicherstellen, dass die Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns die von den Sozialpartnern ausgehandelten Lohnerhöhungen widerspiegelt.

Die Mindestlohnkommission selbst sah auf Basis der bisherigen wissenschaftlichen Evaluationen zu etwaigen Auswirkungen des Mindestlohns bislang keinen Anlass, die gesetzlich vorgeschriebene Orientierung an der Tariflohnentwicklung infrage zu stellen. Diese Einschätzung deckt sich mit Ergebnissen aus der IAB-Forschung. Danach hat der Mindestlohn zu Lohnsteigerungen geführt, die weitestgehend beschäftigungsunschädlich waren (lesen Sie dazu auch den IAB-Kurzbericht 24/2019).

In den letzten Jahren ist der Mindestlohn langsamer gestiegen als die Tariflöhne

Seit Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 ist dieser langsamer gestiegen als der Tariflohnindex (siehe Abbildung 1). Im Januar 2017 wurde der Mindestlohn erstmals angehoben. Mit 4 Prozent blieb diese Anhebung aber um 1,2 Prozentpunkte hinter dem im selben Zeitraum zu verzeichnenden Anstieg des Tariflohnindex zurück. Die Diskrepanz steht nicht im Widerspruch zur gesetzlich vorgeschriebenen Orientierung am Tariflohnindex, da die Erhöhung zum 1. Januar 2017 bereits im Juni 2016 beschlossen wurde. Damals lag der Tariflohnindex noch auf einem niedrigeren Niveau.

Abbildung 1 zeigt die Entwicklung von Mindestlohn und Tariflohnindest 2013 bis 2023, Der Tariflohnindex bezieht sich auf die Gesamtwirtschaft und berücksichtigt keine Sonderzahlungen. Quelle: Statistisches Bundesamt und Mindestlohnkommission ⒸIAB

Auch für die zweite Anpassung des Mindestlohns zum 1. Januar 2019 wurde laut Beschluss der Mindestlohnkommission die Entwicklung des Tariflohnindex berücksichtigt. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens im Januar 2019 lag die Entwicklung des Mindestlohns jedoch bereits um 2,6 Prozent hinter der bis dahin realisierten Tariflohnentwicklung zurück. Der Abstand zwischen Mindestlohn- und Tariflohnentwicklung hatte sich also weiter vergrößert.

Bei der dritten Anpassung des Mindestlohns zum 1. Januar 2020 lag der gesetzliche Mindestlohn dann um 3,9 Prozent unter dem Niveau, das sich bei einer exakten Orientierung am Tariflohnindex ergeben hätte. Das ist insofern bemerkenswert, als die ersten beiden Anhebungsbeschlüsse der Mindestlohnkommission entsprechend der Entwicklung des Tariflohnindex erfolgten. Dennoch hinkte der Mindestlohn der Entwicklung des Tariflohnindex im Laufe der Zeit immer stärker hinterher.

Zeitliche Diskrepanz zwischen Entscheidung und Inkrafttreten der Mindestlohnanhebungen

Eine wichtige Erklärung für das Auseinanderdriften von Mindestlohn- und Tariflohnentwicklung ist die zeitliche Diskrepanz zwischen der Entscheidung der Mindestlohnkommission über Anpassungen und dem Zeitpunkt, zu dem diese dann in Kraft treten.

Grundsätzlich wird die Entscheidung über die Anpassung des Mindestlohns ein halbes Jahr vor dem Inkrafttreten getroffen, denn § 9 des Mindest­lohngesetzes verlangt, dass die Mindestlohnkommission alle zwei Jahre zum 30. Juni einen Beschluss mit Wirkung zum 1. Januar des Folgejahres vorlegen muss. Die zeitliche Diskrepanz ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Implementierung des neuen Mindestlohns durch die Bundesregierung in Form einer Rechtsverordnung eine gewisse Zeit beansprucht, unter anderem um eine politische Debatte über die geplanten Anpassungen zu ermöglichen und um sicherzustellen, dass sich die Betriebe auf den neuen Mindestlohn einstellen können.

Der Beschluss erfolgt also auf Basis der zum jeweiligen Zeitpunkt verfügbaren Daten. Tarifabschlüsse, die erst danach in Kraft treten, werden demzufolge nicht oder nur im Ausnahmefall berücksichtigt. Insofern läuft der Mindestlohn der tatsächlichen Tariflohnentwicklung im Regelfall um mindestens sechs Monate hinterher.

Die Tabelle zeigt die Datenlage für die ersten drei Anhebungen des Mindestlohns im Detail. Als die erste Erhöhung beschlossen wurde, lag der Tariflohnindex bei 103,15 Indexpunkten. Die Mindestlohnkommission hatte bei ihrer damaligen Entscheidung bereits Tarifabschlüsse berücksichtigt, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Tariflohnindex enthalten waren. Denn sie empfahl eine Anhebung des Mindest­lohns auf 8,84 Euro, was 104 Indexpunkten entspricht – also 0,85 Indexpunkte über dem Tariflohnindex zum Zeitpunkt der Entscheidung. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens lag der Tariflohnindex jedoch bereits bei 105,18 Indexpunkten. Damit waren die Tariflöhne der Entwicklung des Mindestlohns also schon zum Zeitpunkt der ersten Anhebung vorausgeeilt.

Tabelle 1 zeigt den Index der Tariflohn- und Mindestlohnentwicklung während der ersten drei Mindestlohnerhöhungen. Quelle: Statistisches Bundesamt und Mindestlohnkommission ⒸIAB

Zum Zeitpunkt der Entscheidung über die zweite Anhebung des Mindestlohns im Juni 2018 lag der Tariflohnindex bei 109,24 Indexpunkten. Es wurde jedoch für Januar 2019 lediglich eine Erhöhung des Mindestlohns auf 108,12 Indexpunkte empfohlen. Die zeitliche Diskrepanz kann hier also den Nachlauf des Mindestlohns nicht gänzlich erklären, weil der Tariflohnindex bereits zum Zeitpunkt des Beschlusses über der Empfehlung der Mindestlohnkommission lag. Es zeigt sich aber auch bei dieser zweiten Anpassung des Mindestlohns, dass der Tariflohnindex bis zu deren Inkrafttreten so gestiegen war, dass der Mindestlohn diesem erneut deutlich hinterherhinkte.

Anders als ursprünglich vom Gesetzgeber vorgesehen, wurde Mitte 2018 gleichzeitig eine außerplanmäßige Erhöhung des Mindestlohns zum 1. Januar 2020 beschlossen, also bereits eineinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten. Damit beschloss die Kommission erstmals eine Mindestlohnanpassung deutlich früher als sechs Monate vor Inkrafttreten, sodass die weitere Tariflohnentwicklung wegen des sehr viel längeren Zeitraums noch weit stärker unterschätzt wurde als in der Vergangenheit.

Mit der 2022 vorgesehenen Erhöhung dürfte die Kluft wieder geschlossen sein

Im Juni 2020 beschloss die Mindestlohnkommission weitere Erhöhungen. In der Folge wurde der Mindestlohn zum Januar 2021 auf aktuell 9,50 Euro angehoben – und er wird in drei weiteren Anhebungsschritten bis Juli 2022 auf 10,45 Euro steigen (siehe Abbildung 1). Der Vergleich mit dem Tariflohnindex zeigt, dass die aktuelle Höhe des Mindestlohns bislang noch deutlich unter dem Niveau liegt, das sich bei einer strikten und zeitnahen Kopplung an die Entwicklung der Tariflöhne ergeben hätte. Nach den moderaten Erhöhungen im Juli 2021 und Januar 2022 dürfte sich der Mindestlohn mit der bereits beschlossenen stärkeren Erhöhung Mitte des Jahres 2022 wieder dem Wachstumspfad des Tariflohnindex annähern.

Sowohl aufgrund der Länge des Zeitraums als auch aufgrund der gegenwärtigen wirtschaftlichen Unsicherheit lässt sich kaum abschätzen, wie genau die bereits festgelegte Anpassung des Mindestlohns die künftige Entwicklung der Tariflöhne widerspiegelt. Denn Zeitpunkt und Stärke der wirtschaftlichen Erholung nach Ende der aktuellen Krise und die sich daraus ergebende Lohnentwicklung lassen sich kaum seriös vorhersagen. Die jüngste Entscheidung der Mindestlohnkommission, den Mindestlohn zunächst nur in kleineren Schritten und erst Mitte kommenden Jahres kräftig zu erhöhen, dürfte von der Überlegung geleitet gewesen sein, die Betriebe nicht unter zusätzlichen Kostendruck zu setzen, solange die Auswirkungen der Corona-Krise noch stark spürbar sind.

Die Entwicklung des Mindestlohns läuft auch der allgemeinen Lohnentwicklung hinterher

Eine weitere, jedoch nicht explizit gesetzlich verankerte Vergleichsgröße zur Entwicklung des Mindestlohns bietet die Entwicklung der Verbraucherpreise und aller (also auch der nicht tariflich vereinbarten) Nominallöhne (hier erfasst über den sogenannten Bruttoverdienstindex). Aus Sicht derjenigen, die den Mindestlohn beziehen, ist insbesondere die Entwicklung der Verbraucherpreise relevant, da sich diese auf die reale Kaufkraft des Mindestlohns auswirkt.

Bis Ende 2018 stiegen die Verbraucherpreise insgesamt etwas schneller als der Mindestlohn, da dieser bis dahin nur einmal, nämlich im Januar 2017, erhöht wurde. Das reichte nicht aus, um die zwischen 2015 und 2018 erfolgte Inflation auszugleichen (siehe Abbildung 2). Dieser Rückstand wurde mit der Erhöhung zum 1. Januar 2019 wieder aufgeholt. Seitdem liegen die Mindestlohnerhöhungen durchgehend oberhalb des Verbraucherpreisindex, sodass die Kaufkraft des Mindestlohns inzwischen steigt und über dem Niveau bei Einführung des Mindestlohns in 2015 liegt.

Abbildung 2 zeigt die Entwicklung des Mindestlohns sowie des Verbraucherpreis- und Bruttoverdienstindex. Quelle: Statistisches Bundesamt und Mindestlohnkommission Tabelle 1 zeigt den Index der TariAbbildung 2 zeigt die Entwicklung des Mindestlohns sowie des Verbraucherpreis- und BruttoverdienstindexQuelle: Statistisches Bundesamt und Mindestlohnkommission ⒸIAB

Demgegenüber hinkt der Mindestlohn der allgemeinen Lohnentwicklung seit seiner Einführung im Jahr 2015 hinterher. Dies zeigt der Vergleich mit dem Bruttoverdienstindex des Statistischen Bundesamtes. Dieser basiert auf den nominalen Stundenlöhnen für Vollzeitbeschäftigte im Produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich und beinhaltet die Löhne des Großteils der abhängig Beschäftigten. Der Bruttoverdienstindex umfasst damit im Gegensatz zum Tariflohnindex auch nicht tarifgebundene Löhne. Die zunehmende Diskrepanz zwischen der Entwicklung des Mindestlohns und der allgemeinen Lohnentwicklung zeigt sich also nicht nur im Vergleich mit dem Tariflohnindex, sondern auch mit dem weiter gefassten Bruttoverdienstindex.

In diesem Zusammenhang ist auch der direkte Vergleich zwischen der Entwicklung der Tariflöhne und der allgemeinen Lohnentwicklung interessant (siehe Abbildung 3). Wenn der Tariflohnindex stärker steigt als die Löhne insgesamt, würde der Mindestlohn – bei exakter Orientierung am Tariflohnindex – stärker steigen als die durchschnittlichen Löhne. Wenn der Tariflohnindex hingegen hinter die allgemeine Lohnentwicklung zurückfällt, würde auch der Mindestlohn weniger stark steigen als die Löhne aller Beschäftigten.

Ein Auseinanderklaffen beider Entwicklungen wird allein dadurch immer wahrscheinlicher, dass immer weniger Beschäftigte in Deutschland in einem tarifgebundenen Betrieb arbeiten (lesen Sie dazu auch einen 2020 erschienenen Beitrag von Susanne Kohaut im IAB-Forum). Gleichwohl zeigt sich im betrachteten Zeitraum kein nennenswerter Unterschied bei der Entwicklung beider Indizes.

Allerdings sind bestimmte Beschäftigungsgruppen wie Teilzeitbeschäftigte oder Minijobber, die besonders häufig zum Mindestlohn entlohnt werden, im Bruttoverdienstindex nicht enthalten. Würde man diese ebenfalls berücksichtigen, könnte dies unter Umständen einen Unterschied für die ausgewiesene Lohnentwicklung machen und zu einer größeren statistischen Diskrepanz zwischen beiden Indizes führen.

Abbildung 3 zeigt den Lohndrift zwischen Tariflohnindex und Bruttoverdienstindex. Quelle: Statistisches Bundesamt und Mindestlohnkommission ⒸIAB

Fazit

Prinzipiell orientieren sich die Erhöhungen des Mindestlohns, wie im Gesetz verankert, an der Entwicklung des Tariflohnindex. Vor allem weil zwischen der von der Mindestlohnkommission ausgesprochenen Empfehlung zur Anhebung des Mindestlohns und deren Inkrafttreten ein zeitlicher Abstand liegt, stiegen die Tariflöhne, aber auch die Löhne allgemein, in den letzten Jahren jedoch etwas schneller als der Mindestlohn.

Zu Beginn des Jahres 2020 lag der Mindestlohn um 36 Cent unter dem Niveau, das sich bei einer exakten Orientierung am Tariflohnindex ergeben hätte. Dennoch haben die Mindestlohnerhöhungen dazu beigetragen, die Kaufkraft der betroffenen Beschäftigten zu erhalten oder sogar zu verbessern. Und auch der Rückstand des Mindestlohns gegenüber der Tariflohnentwicklung und der allgemeinen Lohnentwicklung dürfte mit der bereits für Juli 2022 beschlossenen Erhöhung des Mindestlohns auf 10,45 Euro der Vergangenheit angehören.

Literatur

Börschlein, Benjamin, & Bossler, Mario (2019): Eine Bilanz nach fünf Jahren gesetzlicher Mindestlohn: Positive Lohneffekte, kaum Beschäftigungseffekte, IAB-Kurzbericht Nr. 24.

Kohaut, Susanne (2020): Tarifbindung geht in Westdeutschland weiter zurück. In: IAB-Forum, 13.05.2020.

 

Börschlein, Erik-Benjamin; Bossler, Mario; Wiemann , Jan Simon (2021): Gesetzlicher Mindestlohn: 2022 dürfte der Rückstand gegenüber der Tariflohnentwicklung aufgeholt sein, In: IAB-Forum 15. Februar 2021, https://www.iab-forum.de/gesetzlicher-mindestlohn-2022-duerfte-der-rueckstand-gegenueber-der-tariflohnentwicklung-aufgeholt-sein/, Abrufdatum: 26. April 2024