Während der Covid-19-Pandemie erwies sich Kurzarbeit als ein hochwirksames Mittel gegen massiven Personalabbau in vielen europäischen Ländern. Italien setzte dabei auf eine bereits bestehende, teils angepasste Regelung, die in früheren Krisenzeiten bereits häufig zum Einsatz kam: die „Cassa Integrazione Guadagni“. In diesem Interview bietet Giulia Giupponi, Assistenzprofessorin für Volkswirtschaftslehre an der Bocconi-Universität, Einblicke in das italienische Konzept der Kurzarbeit sowie Erkenntnisse, die beim Einsatz dieser Maßnahme während der Corona-Krise gewonnen wurden.

Welche Ziele verfolgte die in Italien währen der Pandemie angewendete Kurzarbeitsregelung?

Die Cassa-Integrazione-Guadagni-Regelung verfolgt vier Ziele: Erstens, die Unterstützung der Unternehmen bei der Finanzierung der Arbeitsstundenreduzierung (obwohl die Empfänger der Leistungen nicht die Firmen, sondern die Beschäftigten sind). Zweitens, die Zahlungen an die Beschäftigten für nicht geleistete Stunden. Drittens, die Möglichkeit für die Unternehmen, Teile ihre Belegschaft vorübergehend zu entlassen, weil das Kurzarbeitssystem in Italien sowohl teilweise als auch vollständige Reduktion der Arbeitszeit subventioniert. Und viertens, die Verteilung der Anpassungskosten unter den Beschäftigten.

Hatte Italien bereits Erfahrungen mit Kurzarbeitsregelungen vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie?

Das italienische Kurzarbeitsprogramm wurde während des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1941 eingeführt und 1945 im System verankert. Das Programm wird seither genutzt.

Die drei Säulen der italienischen Kurzarbeitsregelung sind: Cassa Integrazione Guadagni Ordinaria, Straordinaria und Deroga.

Was sind die wesentlichen Elemente der „Cassa Integrazione Guadagni“?

Das System basiert auf drei Säulen: der Cassa Integrazione Guadagni Ordinaria (CIGO), der Cassa Integrazione Guadagni Straordinaria (CIGS) und der Cassa Integrazione Guadagni in Deroga (CIGD).

Die Cassa Integrazione Guadagni Ordinaria (CIGO) zielt auf kleinere vorübergehende Störungen ab, unter anderem der Nachfrage oder Produktion, oder auf Vorfälle, die eine erzwungene Tätigkeitseinschränkung hervorrufen (zum Beispiel ungünstige Wetterbedingungen, Erdbeben, Stromausfälle). Diese Regelung steht den Unternehmen der Produktions- und Baubranche zur Verfügung und umfasst eine Dauer von höchstens 13 aufeinanderfolgenden Wochen. Unternehmen können diese Leistungen für eine maximale Dauer von 52 Wochen über zwei Jahre in Anspruch nehmen.

Die Cassa Integrazione Guadagni Straordinaria (CIGS) zielt auf wirtschaftliche Störungen wie Unternehmenskrisen, Neuorganisation und – bis 2016 – auch Insolvenz ab. Unternehmen der Produktions- und Baubranche mit mehr als 15 Beschäftigten sowie Firmen aus dem Dienstleistungsbereich mit über 50 Beschäftigten können davon Gebrauch machen. Die Höchstbezugsdauer beträgt 12 Monate bei Unternehmenskrisen und 24 Monate bei Neuorganisation. Die Verlängerungsoptionen sind beschränkt.

Die Cassa Integrazione Guadagni in Deroga (CIGD) ist ein zusätzliches Programm, welches 2009 eingeführt wurde, um Unternehmen und Beschäftigen, die keinen Anspruch auf Cassa Integrazione Ordinaria haben, dennoch Zugang zu Kurzarbeit zu ermöglichen. Die Höchstbezugsdauer betrug bei diesem Programm 3 Monate. Es wurde im Jahr 2016 abgeschafft.

Wie haben sich die Zielgruppen, die Höhe der Leistungen und die Bezugsdauer während der Corona-Krise verändert?

Während der Pandemie wurde die Bezugsdauer der Unterstützung mehrmals per Erlass verlängert, und zwar ohne Auswirkungen auf die Dauer der zukünftigen Nutzung von Kurzarbeit aus anderen, nicht coronabedingten Gründen. Die Höhe der Leistungen wurde hingegen nicht geändert.

Außerdem wurde die Cassa Integrazione in Deroga wieder eingeführt, um die Unternehmen und Branchen abzudecken, die keinen Anspruch aus der Cassa Integrazione Ordinaria haben. Die Verlängerungen der Bezugsdauer waren bis Ende 2022 in Kraft.

Dank Wiedereinführung der “Cassa Integrazione in Deroga” wurde der Zugang zu Kurzarbeit während der Pandemie beträchtlich erleichtert.

Wie haben sich die Zugangskriterien zum Programm während der Covid-19-Pandemie verändert?

Vor der Pandemie war Kurzarbeit hauptsächlich Beschäftigten aus der Produktions- und Baubranche vorbehalten, da die Cassa Integrazione Straordinaria nur Unternehmen ab einer bestimmten Größe zur Verfügung stand. Um von dieser Regelung zu profitieren, mussten Arbeitnehmer mindestens 90 Tage beim jeweiligen Unternehmen angestellt sein. Während der Pandemie wurde der Zugang zu Kurzarbeit dank Wiedereinführung der Cassa Integrazione in Deroga beträchtlich erleichtert. Außerdem wurden die Mindestanforderungen bezüglich der Dauer des Beschäftigungsverhältnisses abgeschafft, damit auch Leiharbeiter davon profitieren.

Was war die höchste Nutzungsquote 2020 und 2021?

Laut lavoce.info lag die höchste Nutzungsquote bei 26 Prozent der Beschäftigten im April 2020 und bei 9 Prozent im März 2021. Erleichterter Zugang und längere Bezugsdauer trugen zur Stärkung der Rolle der Kurzarbeit in Italien während der Covid-19-Krise bei.

Die Cassa Integrazione Guadagni wird teilweise durch Experience Rating finanziert.

Wie finanziert sich die Cassa Integrazione Guadagni?

Zu normalen Zeiten finanzieren sich Cassa Integrazione Ordinaria und Straordinaria durch die regulären Beiträge der anspruchsberechtigten Unternehmen, abgeführt als Prozentsatz des Bruttolohns der Beschäftigten. Zusätzlich werden die Programme teilweise durch eine sogenannte Experience-Rating-Komponente finanziert: Dabei zahlen die Unternehmen, welche das Programm nutzen, zusätzliche Beiträge, kalkuliert als Prozentsatz der von den Beschäftigten erhaltenen Unterstützung.

Gibt es Maßnahmen zur Vorbeugung von Mitnahmeeffekten und Missbrauch durch Unternehmen, die finanzielle Unterstützung unberechtigterweise erhalten?

Unter normalen Umständen müssen Unternehmen einen Beweis ihrer finanziellen Not sowie einen Sanierungsplan vorlegen, wenn sie Unterstützung beantragen. Zusätzlich verfügt die Regelung über eine Komponente wie Experience Rating oder Kostenbeteiligung, die entsprechend der Anzahl der genutzten Kurzarbeitsstunden steigt.

Die Erfahrungen der Großen Rezession deuten auf positive, obgleich eingeschränkte Reallokationseffekte der Kurzarbeit in Italien hin.

Hat das Unterstützungssystem aus Ihrer Sicht die notwendigen Umstrukturierungsprozesse in der Wirtschaft verlangsamt?

Das ist schwer einzuschätzen. Meines Wissens gibt es bisher keinerlei Bewertung der Reallokationseffekte während der Pandemie. Die Erfahrungen aus der Großen Rezession deuten auf positive, obgleich eingeschränkte Reallokationseffekte der Kurzarbeit in Italien im Kontext einer längeren Krise hin, wo die Regelung letztendlich einen erheblichen Anteil der Unternehmen mit geringer Produktivität unterstützte (beschrieben in meiner gemeinsamen Analyse mit Camille Landais). Die Covid-19-Krise unterschied sich aus zwei Hauptgründen. Einerseits war der Schweregrad der Krise weitestgehend unabhängig von der Produktivität der Betriebe. Daher war es unwahrscheinlich, dass Kurzarbeit überwiegend Jobs mit geringer Produktivität subventionieren würde. Andererseits wurden die Leistungen deutlich häufiger in Anspruch genommen als während der Großen Rezession. Demzufolge können wir nicht ausschließen, dass Kurzarbeit einen stärkeren negativen Einfluss auf Reallokation haben könnte als bisher angenommen.

Gibt es für Arbeitgeber finanzielle Anreize, ihren Beschäftighten betriebliche Weiterbildung während des Leistungsbezugs anzubieten?

Nein.

Gab es Anreize für die Leistungsempfänger, sich nach einem neuen Job umzuschauen?

Nein.

Nach Informationen der Bank von Italien trug die Kombination der während der Pandemie eingeführten Maßnahmen zu einer signifikanten Reduzierung der Entlassungen bei.

Wie schätzen Sie die allgemeine Wirksamkeit der Kurzarbeitsprogramme ein, um die Auswirkungen der Krise auf die Beschäftigung abzufedern?

Nach Informationen der Bank von Italien trug die Kombination der während der Pandemie eingeführten Maßnahmen zu einer signifikanten Reduzierung der Entlassungen bei. Dies deckt sich mit der breiten empirischen Evidenz zur Großen Rezession aus Studien von Daniel Kopp und Michael Siegenthaler (2021), Pierre Cahuc und anderen (2021) sowie von Camille Landais und mir (2022). Demnach hat sich Kurzarbeit als ein hochwirksames Instrument zur Erhaltung von Arbeitsplätzen erwiesen.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Covid-19-Krise den Prozess der Sozialversicherungsreform in Italien beschleunigt und im Jahr 2022 zur Verabschiedung einer Reform geführt hat. Dadurch wurde ein universelle Rechtsanspruch auf Kurzarbeitergeld etabliert, die Leistungen verbessert, das System vereinheitlicht und insgesamt die Rolle der Kurzarbeit gestärkt.

Die Covid-19-Krise hat den Prozess der Sozialversicherungsreform in Italien beschleunigt.

Wann sollen die während der Pandemie eingeführten Sonderregelungen auslaufen?

Die meisten coronabezogenen Vorschriften sind inzwischen ausgelaufen.

Zur Person

Giulia Giupponi ist Assistenzprofessorin für Volkswirtschaft im Institut für Sozial- und Politikwissenschaften an der Bocconi Universität. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Arbeitmarkt und Finanzwissenschaften, mit Fokus auf Sozialversicherungen, Mindestlohn und Arbeitsmarktungleichheiten.

Literatur

Cahuc, Pierre; Kramarz, Francis; Nevoux, Sandra (2021): The Heterogeneous Impact of Short-Time Work: From Saved Jobs to Windfall Effects, CEPR Discussion Paper 12269.

Giupponi, Giulia; Landais, Camille (2022): Subsidizing Labor Hoarding in Recessions: The Employment and Welfare Effects of Short Time Work,- (Forthcoming), Review of Economic Studies.

Kopp, Daniel; Siegenthaler, Michael (2021): Short-Time Work and Unemployment in and after the Great Recession, Journal of the European Economic Association 19(4): 2283-2321.

 

doi: 10.48720/IAB.FOO.20230308.01

Winters, Jutta; Schludi, Martin (2023): „Erleichterter Zugang und längere Bezugsdauer haben die Bedeutung der Kurzarbeit in Italien während der Covid-19-Krise gestärkt“, In: IAB-Forum 8. März 2023, https://www.iab-forum.de/erleichterter-zugang-und-laengere-bezugsdauer-haben-die-bedeutung-der-kurzarbeit-in-italien-waehrend-der-covid-19-krise-gestaerkt/, Abrufdatum: 28. April 2024