Noch bis vor Kurzem erschien dies schwer vorstellbar: Im Herbst 2022 erreichte die Inflationsrate in der Bundesrepublik mit über 10 Prozent ein neues Allzeithoch. Infolge von Lieferengpässen und exorbitant gestiegenen Energiekosten klettern die Preise auf breiter Front und in bisher ungekanntem Tempo. Eine Rückkehr zu stabilen Preisen ist derzeit nicht in Sicht. Explodierende Preise bergen gleichermaßen ökonomischen wie sozialpolitischen Sprengstoff. Die Bundesregierung versucht – wie schon in der Corona-Krise – mit milliardenschweren Entlastungspaketen vor allem den hohen Energiekosten entgegenzuwirken.

Sind die temporären Entlastungspakete in ihrer Wirkung ausreichend oder braucht es gar dauerhafte Entlastungen, weil die Inflation auch in den kommenden Jahren hoch bleibt? Sind die Pakete geeignet, den Inflationsdruck zu mindern oder verschärfen sie diesen eher? Wird es zu einer Pleitewelle kommen, die am Ende auch den Arbeitsmarkt in Mitleidenschaft zieht? Diese und weitere Fragen diskutierten Expertinnen und Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Arbeitsverwaltung am 7. November 2022 im Nürnberger Rathaussaal. Die Veranstaltung wurde von der Bundesagentur für Arbeit — unter Federführung des IAB — und der Stadt Nürnberg ausgerichtet. Einen Videomitschnitt der Veranstaltung, die von Petra Boberg, Journalistin beim Hessischen Rundfunk, moderiert wurde, finden Sie auf dem YouTube-Kanal des IAB.

König: „Es zeichnet sich ab, dass wir vor einer Rezession stehen“

Marcus König ist Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg.

In seiner Eröffnungsrede veranschaulichte Marcus König, Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg, die Inflationswirkung anhand eines alltäglichen Beispiels: Im Jahr 2012 lag der Butterpreis noch bei 89 Cent pro Päckchen, nun zahlen Verbraucher und Verbraucherinnen 2,50 Euro. Nach Königs Einschätzung müssen sich die Deutschen darauf einstellen, dass die Preise, besonders im Energiesektor, in den nächsten Jahren deutlich höher sein werden als vor dem Ukraine-Krieg. Verknappung der Gaslieferungen, allgemein steigende Energiekosten, sinkende Konsumneigung und unterbrochene Lieferketten seien eine große Herausforderung für die Unternehmen. „Es zeichnet sich ab, dass wir vor einer Rezession stehen“, warnte König.

Portraitfoto Christina Ramb

Christina Ramb ist Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).

Ramb: „Viele Unternehmen wissen nicht, wie sie mit den hohen Energiepreisen wirtschaften sollen“

Dass die exorbitanten Preisanstiege gerade bei einkommensschwachen Menschen Ängste auslösen, sagt auch Christina Ramb, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Die Küchen für Ärmere hätten einen höheren Zulauf. Diese Ängste, so Ramb, müssten ernst genommen werden. Während einerseits die Energiepreise reguliert würden, müsste andererseits ein Ausgleich gefunden werden, der die Menschen möglichst wenig belaste. Zugleich müsse das Angebot an Energie erhöht und die Nachfrage nach Energie reduziert werden. Dafür brauche es nicht zuletzt mehr Energieeffizienz. Naheliegenderweise wies Arbeitgebervertreterin Ramb auch auf die wachsenden Sorgen der Unternehmen hin: Sie wüssten häufig nicht, wie sie mit den hohen Energiepreisen wirtschaften sollen, zumal diese aktuell zwar die Hauptsorge, aber mitnichten die einzige Sorge seien. Denn die Betriebe sehen sie sich nach wie vor einem starken Fachkräftemangel gegenüber, kämpften immer noch mit den Nachwehen der Corona-Krise und müssten gleichzeitig Transformationsprozesse bewältigen. Ramb sprach sich dafür aus, Anreize für Unternehmen zu schaffen, damit diese die Produktion aufrechterhalten, anstatt sie einzustellen.

Portraitfoto Anja Piel

Anja Piel ist Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB).

Piel: „Die Idee, dass niemand ins Bodenlose fallen darf, treibt uns alle enorm voran.“

Die Sorgen und Ängste der Menschen sind individuell. Facharbeiter und Facharbeiterinnen, die tariflich abgesichert sind, haben weniger Angst vor der Inflation und ihren Folgen als solche, die es nicht sind, stellte Anja Piel fest, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Das beträfe insbesondere einkommensschwächere Menschen,  manche würden sich Sorgen machen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen könnten. In diesem Zusammenhang sollte ihrer Auffassung nach über Miet- und Kündigungsmoratorien nachgedacht werden. Es dürften keine Spaltungsprozesse auf dem Rücken dieser Menschen ausgetragen werden: „Die Idee, dass niemand ins Bodenlose fallen darf, treibt uns alle enorm voran. Es braucht gesamtgesellschaftliche Anstrengungen, um dafür zu sorgen, dass möglichst wenig Menschen betroffen sind.“ Dabei gelte es, möglichst viele in Beschäftigung zu halten. Es werde dennoch Menschen geben, die auf der Strecke bleiben würden und für die dann umso mehr getan werden müsse, um sie wieder abzuholen, forderte Piel.

Portraitfoto Andrea Nahles

Andrea Nahles ist Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Nahles: „Schaffen wir die Unabhängigkeit vom russischen Gas? Machbar ist es – aber nicht ohne Preis!“

Andrea Nahles, vormalige Bundesarbeitsministerin und erst seit Kurzem Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, sieht trotz der schweren Krise auch einen sehr positiven Aspekt am Arbeitsmarkt: Noch mehr als in früheren Krisen sei das Ziel der Arbeitgeber, Personalbindung zu betreiben und ihre Beschäftigten so lange wie möglich zu halten. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, betonte Nahles, liegt derzeit bei über 34 Millionen Personen — und damit so hoch wie noch nie. Die Insolvenzzahlungen seien auf einem sehr niedrigen Niveau. Auch für Nahles ist es zentral, dass die Energiefrage gelöst wird: „Schaffen wir die Unabhängigkeit vom russischen Gas?“, fragte Nahles. Dieses Signal brauche es spätestens im Jahr 2024, um Planungssicherheit für Unternehmen und Verbraucher zu garantieren. Die von einem Gewerkschaftsvertreter aus dem Publikum geäußerte Sorge vor einem neoliberalen Kahlschlag konterte Nahles mit dem Hinweis auf die enormen staatlichen Hilfsprogramme, die der Staat im Gefolge der Corona-Krise und des Ukraine-Kriegs aufgelegt hat: „Wir erleben in Deutschland seit einigen Jahren staatliche Interventionen, wie ich sie noch nicht erlebt habe.“ Es seien rund 50 Milliarden Euro an Kurzarbeitergeld ausbezahlt worden: „Wenn das mal keine Marktbeeinflussung war“, zeigte sich Nahles überzeugt.

Portraitfoto Claudia M. Buch

Prof. Claudia M. Buch ist Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank.

Buch: „Wir brauchen Solidarität in Europa“

Mit Prof. Claudia M. Buch, Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank, war auch eine renommierte geldpolitische Expertin auf dem Podium vertreten. Sie verwies auf das grundlegende ökonomische Problem, dass die Importe nach Deutschland wegen der gestiegenen Energiepreise teurer geworden seien, nicht aber die deutschen Exporte. Dies sei gesamtwirtschaftlich ein Wohlstandsverlust. Davon seien auch viele andere europäische Länder betroffen. Angesichts des unerwartet schnellen Preisanstiegs braucht es nach Buchs Einschätzung resiliente und gut regulierte Finanzmärkte. Das könne Deutschland nicht alleine sicherstellen: „Wir brauchen Solidarität in Europa“, so Buch. Die Anhebung des Leitzinses durch die Europäische Zentralbank sei der Beitrag, den die Notenbanken in dieser Situation leisten könnten. Weiterhin gelte es, eine Lohn-Preis-Spirale zu vermeiden, denn eine Lohnentwicklung, die nicht im Einklang mit stabilen Preisen steht, könne die Spirale zusätzlich antreiben. In der momentanen Situation erkennt Buch gleichwohl auch ein positives Potenzial: Viele Unternehmen seien schon dabei, sich umzustellen, da werde eine Dynamik freigesetzt, die sehr positiv wirken kann, zeigte sich Buch zuversichtlich.

Walwei: „Diese Inflation ist nicht hausgemacht, sondern in großen Teilen importiert“

Im Schlusswort erinnerte IAB-Vizedirektor Prof. Ulrich Walwei daran, dass die Inflation größtenteils importiert ist: Ursachen seien nicht nur gestiegene Energiepreise, sondern auch Lieferkettenprobleme. Hinzu komme eine sehr schnelle Erholung der Nachfrage nach Corona. Der Wertverlust verursacht laut Walwei höhere Produktionskosten und senkt die reale Kaufkraft: „Diese Zangenbewegung macht eben auch den Unternehmen zu schaffen“, bilanzierte Walwei. Auch er rechnet, ähnlich wie Marcus König, in den kommenden Quartalen mit einer Rezession, die „im Grunde schon nicht mehr vermeidbar ist, angesichts des Mega-Schocks, den wir erlitten haben.“ Immerhin ist Walwei zufolge aber festzuhalten: Auch wenn die Entlastungspakete nicht alles kompensieren könnten, sei am Arbeitsmarkt kein gewaltiger Einbruch zu erwarten.

Prof. Ulrich Walwei ist IAB-Vizedirektor.

Weitere Informationen

Wortbeiträge von Frau Buch bei den Nürnberger Gesprächen (Deutsche Bundesbank)

Video der Veranstaltung auf dem YouTube-Kanal des IAB

doi: 10.48720/IAB.FOO.20221223.01

Kaltwasser, Lena (2022): Nürnberger Gespräche: Rückkehr der Inflation – Gefahr für Wohlstand und Arbeitsplätze?, In: IAB-Forum 23. Dezember 2022, https://www.iab-forum.de/nuernberger-gespraeche-rueckkehr-der-inflation-gefahr-fuer-wohlstand-und-arbeitsplaetze/, Abrufdatum: 1. May 2024