Der Historische Rathaussaal bildete auch am 7. November dieses Jahres wieder die würdige Kulisse für die Nürnberger Gespräche, die das IAB gemeinsam mit der Stadt Nürnberg und der Bundesagentur für Arbeit veranstaltet. Erörtert wurden diesmal die Risiken einer drohenden Deindustrialisierung für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Moderiert wurde die Diskussion von Alexander Hagelücken, leitender Redakteur für Wirtschaftspolitik bei der Süddeutschen Zeitung.

König: „Die Warnsignale sind zu vernehmen”

Markus König (CSU) ist Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg.

In seinen einleitenden Worten betonte Oberbürgermeister Marcus König Nürnbergs Rolle als historisch starke Industrieregion. Entgegen vieler Unkenrufe zeigte er sich zuversichtlich, dass der Region keine Deindustrialisierung droht. So habe sich beispielsweise MAN dazu entschieden, eine Batteriefertigung für 140 Millionen Euro in Nürnberg aufzubauen – für König ein Zeichen des Vertrauens in den Standort. Dennoch seien Warnsignale zu vernehmen. So warnte König, dass die Energiekosten für die Betriebe erschwinglich bleiben müssten.

Kroemer: „Bei der Energieinfrastruktur muss das ‚andere Ufer’ auch tatsächlich gebaut werden”

Lars Kroemer ist Abteilungsleiter für Volkswirtschaft und Statistik des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall.

Anders als König hält Lars Kroemer, Chefvolkswirt der Arbeitgeberverbandes „Gesamtmetall“, die Gefahr einer schleichenden Deindustrialisierung für sehr real. So lag der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung im vergangenen Jahr nur noch bei rund 20 Prozent. Dies sei der schlechteste Wert seit der Wiedervereinigung – abgesehen von 2009, als die Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise besonders stark gewesen waren.

Prinzipiell befürwortet Kroemer angesichts der hohen Energiekosten einen Brückenstrompreises für die Betriebe. Zugleich kritisierte er die unzureichenden Investitionen in die Energieinfrastruktur, etwa in bessere Speichermöglichkeiten und mahnte beim Thema Brückenstrompreis: „Das andere Ufer muss auch mal gebaut werden.“

Zudem beklagt Kroemer, dass die Unternehmen immer weniger qualifiziertes Person fänden – gerade in den technischen und naturwissenschaftlichen Gebieten. So sei der Anteil der Studierenden etwa in der Elektrotechnik rückläufig. Der Staat solle daher mehr in die Berufsorientierung investieren.

Fuchs: „Ich bin davon überzeugt, dass wir in Deutschland unglaublich viel können”

Barbara Fuchs ist Wirtschaftspolitische Sprecherin und Mittelstandsbeauftragte bei Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag.

Barbara Fuchs wiederum zeigt sich überzeugt, dass der Industriestandort Deutschland auch in Zukunft erfolgreich sein wird. Die wirtschaftspolitische Sprecherin der Grünen im Bayerischen Landtag attestiert der Industrie ein hohes Maß an Wandlungsfähigkeit. Sie habe sich stets an neue Anforderungen angepasst und würde das auch künftig schaffen.

„Ich möchte mir nicht vorstellen, dass wir ganze Branchen verlieren“, sagte Fuchs. Das müsse auch nicht sein, wenn die Unternehmen besser dabei unterstützt würden, andere zukunftsfähige Güter zu produzieren: „Ich bin davon überzeugt, dass wir in Deutschland unglaublich viel können. Wir sind bekannt dafür, lange Zeit die besten Autos der Welt produziert zu haben. Dieses Land hat viel Ingenieurknowhow zu bieten.“ Dieses müsse verstärkt in die Weiterentwicklung erneuerbarer Energien eingesetzt werden.

Allerdings hat die Industrie hier nach ihrer Auffassung einen großen Entwicklungsrückstand aufzuholen. Damit dies schneller gelingt, bedürfe es eines Brückenstrompreises. Um einer Abwanderung der Industrie entgegenzuwirken, sei es äußerst wichtig, das hiesige Humankapital zu bewahren und ein ausreichendes Reservoir an ausgebildeten Arbeitskräften zu haben.

Dazu sei auch ein Sinneswandel im Bildungssystem erforderlich. So macht Fuchs deutlich, dass der Bildungsweg über die Mittelschule genauso viel wert sei wie jeder andere – und sie plädiert dafür, dass ein Mittelschulabschluss eine stärkere gesellschaftliche Wertschätzung erfährt. Darüber hinaus müsse das Ziel vor allem sein, eine möglichst geringe Quote an Schulabbrüchen zu erreichen.

Gruber: „Es wird Verlierer geben”

Elisabeth Gruber ist Geschäftsführerin des Mittelständlers Gruber-Folien in Straubing.

Auch Elisabeth Gruber, Geschäftsführerin des mittelständischen Unternehmens Gruber-Folien im bayerischen Straubing, sieht etliche strukturelle Hemmnisse für das produzierende Gewerbe in Deutschland. So fehle es an einer wirklichen Willkommenskultur für ausländische Fachkräfte.

Besonders ihre eigene Zunft, die Unternehmer, sieht sie in der Pflicht. Diese hätten Weiterentwicklungen in Teilen schlicht verschlafen. Es komme entscheidend auf die Eigeninitiative der Unternehmen an, um Entwicklungen zu antizipieren und die Produktion rechtzeitig auf zukunftsfähige Produkte umzustellen. Ihr Unternehmen habe sich glücklicherweise diesbezüglich rechtzeitig beraten lassen.

Zugleich räumte sie ein: „Wir müssen uns ehrlich machen: Es wird Verlierer geben. Einige Unternehmen wird es in einigen Jahren nicht mehr geben.“ Auch Gruber spricht sich für einen Brückenstrompreis aus, um gezielt energieintensive Unternehmen zu unterstützen.

Hammerl: „Wir können es uns nicht leisten, die Industrie als unseren Wohlstandstreiber zu verlieren”

Gerd Hammerl ist Stellvertretender Landesbezirksleiter, IGBCE Landesbezirk Bayern.

Für Gerd Hammerl, stellvertretender Leiter des Landesbezirks Bayern der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE), ist die Unterscheidung zwischen Industrie- und Brückenstrompreis zentral. Denn die IGBCE sei gegen eine dauerhafte Unterstützung in Form eines Industriestrompreises. Unabdingbar sei hingegen ein Brückenstrompreis, um der energieintensiven Industrie eine Brücke ins postfossile Energiezeitalter zu bauen.

Hammerl verwies nicht nur auf die aktuell hohen Energiekosten, sondern auch auf die zusätzlich zu tätigenden hohen Erstinvestitionen. Diese seien häufig eine große Herausforderung für die betroffenen Unternehmen. Die Frage, so Hammerl, sollte nicht sein, ob wir uns einen Brückenstrompreis leisten können, sondern ob wir es uns leisten können, die Industrie als unseren Wohlstandstreiber zu verlieren. Es gelte zu verhindern, dass immer mehr Industriezweige in Staaten mit deutlich niedrigere Klimastandards abwandern.

Nach Hammerls Einschätzung hat schon die Covid-19-Pandemie gezeigt, wie wichtig eine unabhängige Produktion sei. Ein zu zögerliches Agieren kann zu enormen Folgekosten für die ganze Gesellschaft führen, warnte der Gewerkschafter. Mut macht Hammerl der Umstand, dass es hierzulande „zukunftsfähige Champions“ gebe. So seien Chemie- und Solarindustrie in Deutschland hochinnovativ.

Fitzenberger: „Deutschland wird als verlängerte Werkbank anderer Staaten nicht erfolgreich sein”

Prof. Bernd Fitzenberger ist Direktor des IAB.

Deutlich kritischer als seine Mitdiskutant*innen sieht IAB-Direktor Prof. Bernd Fitzenberger den Brückenstrompreis, auch weil er befürchtet, dass damit eine längere und sehr teure Subventionierung der energieintensiven Industrie verbunden sein könnte. Dies könne veraltete Strukturen verfestigen und Unternehmen davon abhalten, sich rechtzeitig umzuorientieren.

Gleichwohl diagnostiziert auch er, dass sich viele Standortbedingungen hierzulande schleichend, aber längerfristig dramatisch verschlechtert haben. Etliche Hindernisse, denen sich die Unternehmen jetzt gegenübersehen, seien auf Versäumnisse in den 2010er Jahren zurückzuführen. So seien Investitionen in Digitales und Infrastruktur zu sehr vernachlässigt worden.

Dabei beklagt er auch eine in Teilen unsystematische Politik: „Ich habe gelegentlich den Eindruck, es geht erst zwei Schritte vorwärts und dann einen zurück.“ Als Beispiel führt er die Subventionen für E-Auto-Ladestationen an. Die Nachfrage nach dieser Förderung war höher als von der Politik kalkuliert. In der Folge waren die Subventionen sofort aufgebraucht. Die Industrie wiederum war nach seiner Einschätzung überrumpelt von einer derart hohen Nachfrage und konnte nicht so schnell liefern. Das Beispiel zeige auch, dass die Menschen sehr wohl bereit sind, klimafreundliche Investitionen zu tätigen.

Nachvollziehen kann Fitzenberger die Entscheidung der Bundesregierung, Beträge von mitunter mehreren Milliarden Euro in Zukunftsindustrien wie die Chipfertigung zu investieren. Man müsse hier perspektivisch denken, da der nachhaltige Nutzen für den Wirtschaftsstandort und somit für die Gesellschaft insgesamt sehr hoch sein dürfte.

Deutschland hat nach seiner Überzeugung in einigen Branchen immer noch die Technologieführerschaft inne. Diese dürfe man nicht aus der Hand geben, denn als „verlängerte Werkbank anderer Staaten wird Deutschland nicht erfolgreich sein“, so Fitzenberger.

Walwei: „Wir sollten den Wandel der Industrie auch als Chance begreifen”

Prof. Ulrich Walwei ist Vizedirektor des IAB

In seinem Schlusswort warb IAB-Vizedirektor Prof. Ulrich Walwei dafür, den Wandel der Industrie nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance zu begreifen. So profitierten die Konsumenten und im Endeffekt die Volkswirtschaft als Ganzes von preiswerteren, da im Ausland produzierten Gütern.

Durch die aktuellen und künftigen Umwälzungen sei „weniger der Industriestandort als solcher gefährdet, sondern zuvörderst die energieintensiven Branchen“, sagte Walwei. Deswegen müsse das Land sich noch mehr auf jene Bereiche konzentrieren, in denen es komparative Vorteile im internationalen Wettbewerb vorweisen kann.

Ein Industriestrompreis würde einen unvermeidbaren Wandel hin zu anderen und teils schlankeren Industriezweigen nur etwas abbremsen, aber nicht aufhalten. Notwendig sei vor allem eine schöpferische Industriepolitik: Dazu müssten mit Hochdruck unter anderem das Bildungssystem, die Forschung, der Ausbau der erneuerbaren Energien sowie eine effizientere Verwaltung gefördert werden.

Weitere Informationen

Video der Veranstaltung auf dem YouTube-Kanal des IAB:

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https://www.youtube.com/watch?v=p7J85_Cq8rQ

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20231214.02

Schulz, Vincent; Schludi, Martin (2023): Nürnberger Gespräche: Comeback der Industriepolitik – (wie) lässt sich eine Deindustrialisierung verhindern?, In: IAB-Forum 14. Dezember 2023, https://www.iab-forum.de/nuernberger-gespraeche-comeback-der-industriepolitik-wie-laesst-sich-eine-deindustrialisierung-verhindern/, Abrufdatum: 29. April 2024