Forschungseinrichtungen können ähnlich wie Unternehmen von divers zusammengesetzten Teams profitieren. Dies gilt auch und gerade für Menschen mit Behinderung. Technische Arbeitshilfen erleichtern heute die Inklusion in Bildungssystem und Arbeitsmarkt zwar erheblich. Dennoch bedarf es etwa in der Wissenschaft zusätzlicher Anstrengungen, nicht zuletzt finanzieller Art, um tatsächlich gleiche Zugangs- und Teilhabechancen zu gewährleisten.

Damit Menschen mit einer angeborenen Behinderung die gleichen Chancen in Ausbildung und Studium haben wie Menschen ohne Behinderung, benötigen sie einen gleichberechtigten Zugang zu schulischer Bildung. Nur dann ist eine „echte“ und freie Berufs- und Studienwahl möglich. Dass dies indes keineswegs selbstverständlich ist, lässt sich am Beispiel sehbehinderter Menschen veranschaulichen.

Es versteht sich von selbst, dass es Berufe gibt, die Menschen mit Sehbehinderung allein deshalb nicht ausüben können, da sie erhöhte Anforderungen an das Sehvermögen stellen. Dazu gehören beispielsweise neben der Chirurgie viele Berufe im Transportwesen. Aber es gibt viele Berufe, die Menschen mit Sehbehinderung prinzipiell ausüben können, wenn sie den gleichberechtigten Zugang zu schulischer Bildung erhalten haben wie Menschen ohne Sehbehinderung.

In der Vergangenheit waren die Hürden auf dem Weg zum Abitur für sehbehinderte Menschen sehr hoch

Die sich etablierende schulische Inklusion macht es Kindern mit angeborener (Seh-)Behinderung heute möglich, wohnortnah eine (weiterführende) Schule zu besuchen. Dies war in der Vergangenheit eher die Ausnahme denn die Regel. Über Jahrzehnte hinweg war es in vielen Bundesländern üblich, dass Kinder mit Behinderung eine Sonderschule mit entsprechendem Förderschwerpunkt besuchen mussten und im angeschlossenen Internat wohnten. Die Lehrpläne waren teilweise an die behinderungsbedingten Bedürfnisse und Einschränkungen angepasst.

Gleichwohl war der Weg zum Abitur – und damit der Zugang zu einem Studium – für Generationen von Menschen mit angeborener Sehbehinderung mit ungleich höheren Hürden versehen als für Menschen ohne entsprechende Einschränkungen. Bevor sich die schulische Inklusion zu etablieren begann, gab es für sie kaum Alternativen zum einzigen grundständigen Gymnasium an der Deutschen Blindenanstalt (Blista) in Marburg, dem heutigen Bundesweiten Kompetenzzentrum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung. An der dort angesiedelten Carl-Strehl-Schule konnten Generationen von blinden oder sehbehinderten Jugendlichen das Abitur ablegen.

Heute dagegen eröffnen die moderne Blinden- und Sehbehindertenpädagogik und die Vielzahl technischer Arbeitshilfen, wie Vergrößerungssoftware oder Textvorlesefunktionen, Menschen mit Sehbehinderung nie dagewesene Möglichkeiten, an Bildung teilzuhaben. Ältere, noch erwerbstätige Menschen mit angeborener Sehbehinderung müssen sich allerdings viele Dinge nun selbst „nebenbei“ und nachträglich erarbeiten, weil ihnen der Zugang zu bestimmten Bildungsinhalten während der Schulzeit allein deshalb nicht möglich war, weil es die dafür erforderlichen Hilfsmittel noch nicht gab.

Beispiel: Mathematische Formeln als Hürde

Ein Beispiel für oft nicht überwindbare Hürden waren in der Vergangenheit mathematische Formelsätze, die in natur- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen in der Regel essenziell sind. Paradoxerweise waren diese Hürden für sehbehinderte Menschen deutlich höher als für Blinde. Denn für letztere gibt es eine spezielle Mathematikblindenschrift, die auf dem System der Brailleschrift basiert.

Für sehbehinderte Menschen jedoch, die üblicherweise nicht Blindenschrift, sondern ihre verbliebene Sehkraft zum Lesen von Schwarzschrift nutzen, stellten die Symbole, aus denen Formelsätze bestehen, zumindest bis vor nicht allzu langer Zeit eine unüberwindbare Hürde dar. Die Symbole entstammen überwiegend nicht dem Zeicheninventar der Standardsprache. Aufgrund der teilweise anderen Linienführung und den teils unterschiedlich großen Zeichen, zum Beispiel bei Indizes und Exponenten, konnten viele sehbehinderte Menschen sie nicht oder nur schlecht erkennen.

Da Sehbehinderungen sehr individuell sind, gibt es heute noch immer Betroffene, die sich trotz technischer Arbeitshilfen, wie einer Vergrößerungssoftware, damit schwertun. Gleichwohl haben die neuen technischen Entwicklungen dazu geführt, dass Sehbehinderten inzwischen ein sehr viel größeres Spektrum an möglichen Studienfächern zur Verfügung steht als früher.

Menschen mit Behinderung waren in der Wahl ihres Studienfachs bislang oft stark eingeschränkt

Die Wahl des Studienfachs hing damit in der Vergangenheit sehr oft von der Zugänglichkeit der notwendigen Literatur und der benötigten Arbeitsmittel ab. Es gehört zum Alltag von Menschen mit Behinderung, dass sie oft selbst den Zugang und die Finanzierung von Arbeitsmitteln und Materialien organisieren müssen. Ein Beispiel hierfür ist die Beschaffung von Literatur, zum Beispiel in digitaler oder in auditiver Form wie Hörbüchern.

Viele Menschen mit Sehbehinderung haben daher bislang geisteswissenschaftliche Studiengänge gewählt, weil ein erfolgreicher Abschluss in natur- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen aus den genannten Gründen nur sehr schwer oder gar unmöglich war.

Forschungseinrichtungen können in mehrfacher Hinsicht profitieren, wenn sie Menschen mit (Seh-)Behinderung beschäftigen

Dass Sehbehinderte natur- und sozialwissenschaftliche Studiengänge bislang weitgehend gemieden und somit auch keine wissenschaftliche Karriere in diesen Fächern eingeschlagen haben, hat nicht nur die beruflichen Möglichkeiten der Betroffenen stark eingeschränkt. Sie könnte sich für die Natur- und Sozialwissenschaften selbst als potenzieller Nachteil erweisen. Denn ähnlich wie Unternehmen profitieren auch Forschungseinrichtungen von Diversität und Inklusion.

In beiden Fällen können diverse Teams dazu beitragen, dass sehr unterschiedliche Kompetenzen, Erfahrungen und Perspektiven in die alltägliche Arbeit einfließen. Dies gilt auch für Forschende mit (Seh-)Behinderung.

Im Alltag müssen die Betroffenen Einschränkungen kompensieren, also Lösungen für alltägliche Dinge suchen und organisieren. Man denke beispielsweise an den Einkauf von Getränkekisten, die sie weder mit dem Auto noch mit dem Fahrrad transportieren können, oder an den Kauf von Büchern im stationären Handel, wo sie die Klappentexte nicht lesen können. Die Aufzählung weiterer Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen.

Organisationstalent und lösungsorientiertes Denken und Handeln sind daher im Alltag von Menschen mit (Seh-)Behinderung essenziell und können sich so auch im Arbeitsalltag als hilfreich erweisen.

Erst recht gilt dies für die Arbeit in einer Forschungseinrichtung. Forschende, die selbst auf barrierefrei zugängliche Medien angewiesen sind, können wissenschaftliche Einrichtungen hierfür sensibilisieren und bei der Erstellung barrierefreier Angebote effektiver beraten und unterstützen. Beispiele hierfür sind die barrierefreie Gestaltung von Präsentationsfolien für Veranstaltungen oder von Publikationen wie Forschungsberichte. Die Forschung selbst kann davon profitieren, wenn Menschen mit Behinderung ihre spezifische Perspektive einbringen.

Forschende mit angeborener (Seh-)Behinderung mussten in ihrer Bildungsbiografie immer wieder Anträge stellen, zum Beispiel auf Kostenerstattung für Hilfsmittel oder auf Nachteilsausgleich im Bildungsprozess. Da es gleichsam zur Tätigkeitsbeschreibung von Forschenden gehört, (Drittmittel-)Anträge zu verfassen und zu begründen, könnten wissenschaftliche Einrichtungen an einigen Stellen von den langjährigen Erfahrungen profitieren, auf die Menschen mit Behinderung hier zurückgreifen können.

Auch wenn sich praktizierte Inklusion in der Forschungsarbeit also für alle Beteiligten auszahlt, gibt es weiterhin Einschränkungen für Forschende mit Behinderung. So sind beispielsweise Arbeitsplätze aufgrund der individuell angepassten Ausstattung ortsgebunden. Gastaufenthalte an anderen Forschungseinrichtungen sind also, wenn überhaupt, nur mit großem organisatorischem Aufwand möglich.

Projekt soll Forschenden mit Behinderung zu neuen Perspektiven in der Wissenschaft verhelfen

Hier setzte unter anderem das Projekt „Akademikerinnen und Akademiker in der Inklusions- und Teilhabeforschung (AKTIF)“ an. Es hatte zum Ziel, Forschenden mit Behinderung zu neuen Perspektiven in der Wissenschaft zu verhelfen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde im Rahmen dieses Projekts die Kampagne „Inklusive Forschung darf kein Wettbewerbsnachteil sein“ gestartet (wer die Kampagne unterstützen möchte, kann dies unter www.aktif-projekt.de tun).

Ziel der Kampagne ist es, die Barrierefreiheit für Forschende mit Behinderung über den gesamten Forschungsprozess hinweg sicherzustellen. Gefordert wird unter anderem ein Budget für Barrierefreiheit, ergänzend zu den „üblichen Projektkosten“. Daraus sollen beispielsweise Schriftdolmetscher für Veranstaltungen oder Audiodeskription für Lehrvideos finanziert werden können.

Fazit

Heute haben Kinder mit angeborener (Seh-)Behinderung sehr viel bessere Chancen auf gleichberechtigte Bildung und Ausbildung als frühere Generationen. Für Betroffene, die bereits in der Forschung tätig sind, bestehen gleichwohl Defizite, die sie nicht aus eigener Kraft ausgleichen können, wenn sie ohne Einschränkungen am Arbeitsleben teilhaben möchten.

Hier sind auch Forschungseinrichtungen in ihrer Rolle als Arbeitgeber gefordert. Wenn sie inklusive Forschungsteams etablieren möchten, die Diversität nicht als Problem, sondern als Stärke begreifen, sollten sie Aufgeschlossenheit und Flexibilität für die spezifischen Belange von Forschenden mit Behinderung zeigen. Das beinhaltet sowohl Toleranz in puncto Fächerkombinationen und Forschungsschwerpunkten in der Berufsbiografie als auch den Willen zur inklusiven Forschung.

Blinden- und Sehbehindertenbildung

Auch wenn es uns heute selbstverständlich erscheinen mag: Historisch betrachtet war es keineswegs selbstverständlich, dass die Interessen von Blinden und von Menschen mit Sehbehinderung Berücksichtigung finden. Wie abhängig die Bildung behinderter Menschen vom Staatssystem ist, zeigt sich an der wechselvollen Geschichte des erst im Jahre 1920 als „Deutscher Blindenlehrerverein“ gegründeten Verbandes der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik. Seine Entwicklung zeigt das Auf und Ab der Blinden- und Sehbehindertenbildung in Deutschland.

Der selbständige Verband wurde 1933 aufgelöst. Aus dem selbständigen Verein wurde die Fachgruppe „Blindenlehrer im nationalsozialistischen Lehrerbund“. In der Nachkriegszeit gab es während der Teilung Deutschlands im damaligen Staatsgebiet der DDR keinen eigenständigen Blindenlehrerverein. Man hatte bewusst auf die Fortführung des Blindenlehrervereins verzichtet.

Determiniert wurde die pädagogische Arbeit der Blindenlehrer in der DDR aus dem 1957 gegründeten Selbsthilfeverein „Allgemeiner Deutscher Blindenverband“. Dieser Verband unterschied sich ganz wesentlich von der Blindenselbsthilfe der Weimarer Republik und der bundesrepublikanischen Selbsthilfe nicht zuletzt, weil er dem Ministerium für Volksbildung unterstellt war.

In Westdeutschland wurde der Verein deutscher Blindenlehrer im Jahre 1950 neu gegründet. Die schulische Bildung von sehbehinderten Kindern beschäftigte die Mitglieder des Vereins seit seiner Neugründung. Die Verfechter von sehbehindertenspezifischer schulischer Bildung gründeten 1962 den Bund der Sehbehindertenlehrer. Durch den Zusammenschluss der beiden Vereine entstand 1971 der Verband der Blinden- und Sehbehindertenlehrer e.V. Seit 1990 gibt es den Verein auch auf dem ehemaligen Staatsgebiet der DDR.

Im Jahre 2008 wurde der Verein in den Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik umbenannt. Er sieht seine Hauptaufgabe darin, blinden- und sehbehindertenspezifischen Unterricht lernortunabhängig, also sowohl in sonderpädagogischen Förderzentren, als auch in inklusiven Bildungssettings zu ermöglichen.

Literatur

Abend, Sonja (2019): Aktiv durch AKTIF. In: G. Kellermann & M. Schröttle (Hrsg.), „Unsere Teilhabe – Eure Forschung? Anstiftung zur Inklusion und Partizipation von Menschen mit Behinderung in der Teilhabeforschung“. Dokumentation der Fachtagung von AKTIF. Dortmund.

Abend, Sonja; Schmidt, Jasmin (2020): Inklusive Forschung – Probleme und Lösungsansätze für blinde und sehbehinderte Forscherinnen und Forscher. In: blind – sehbehindert, Fachzeitschrift für das Blinden- und Sehbehindertenbildungswesen im deutschsprachigen Raum des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V., 140. Jahrgang, Nr. 1, S. 346–354.

Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V. (ohne Jahr): Zur Geschichte des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V.

 

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20230613.01

Abend, Sonja (2023): Forschen mit Sehbehinderung: Die Herausforderungen bleiben groß, In: IAB-Forum 13. Juni 2023, https://www.iab-forum.de/forschen-mit-sehbehinderung-die-herausforderungen-bleiben-gross/, Abrufdatum: 28. April 2024