Zum 1. Oktober 2022 wird der allgemeine gesetzliche Mindestlohn von aktuell 10,45 Euro auf 12,00 Euro erhöht. Diese Erhöhung betrifft deutlich mehr Menschen als die Einführung des Mindestlohns im Jahre 2015. Dennoch gibt es anders als damals kaum Arbeitsagenturen, die negative Auswirkungen auf die Beschäftigung befürchten. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte sein, dass sich der Mangel an Arbeitskräften zwischenzeitlich massiv verschärft hat.

Bereits zum Januar und Juli dieses Jahres war der Mindestlohn von zuvor 9,60 Euro auf 9,82 Euro beziehungsweise 10,45 Euro angehoben worden. Mit der Erhöhung auf 12 Euro im Oktober 2022 entspricht dies einer Steigerung um 25 Prozent im laufenden Jahr. Davon könnten nach Berechnungen des IAB rund acht Millionen Beschäftigte betroffen sein, vor allem in den Bereichen Verkauf, Reinigung, Gastronomie, Lagerei, Gütertransport, Gesundheit und Pflege (lesen Sie dazu auch den IAB-Kurzbericht 12/2022 und ein begleitendes Interview im IAB-Forum). Damit stellt sich die Frage, ob aus der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro negative Folgen für die Beschäftigung erwachsen.

Um dieser Frage nachzugehen, wurden die 155 regionalen Arbeitsagenturen im Rahmen der monatlichen Befragung durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) um ihre Einschätzung gebeten (diese Befragung ist im Übrigen auch die Grundlage für das IAB-Arbeitsmarktbarometer und den Arbeitskräfteknappheits-Index). Bereits bei der Einführung des Mindestlohns wurden in dieser Befragung Sonderfragen zum Mindestlohn gestellt (lesen Sie dazu auch die 2016 erschienene Auswertung der Befragungsergebnisse von Christian Hutter und Enzo Weber).

Im August dieses Jahres wurden die Agenturen gefragt, wie die Erhöhung des allgemeinen Mindestlohns auf 12 Euro nach ihrer Einschätzung die Entwicklung der Beschäftigtenzahl in ihrem Agenturbezirk beeinflusst. Diese Frage wurde getrennt für die Beschäftigung insgesamt, für die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und für die geringfügige Beschäftigung gestellt. Es standen jeweils fünf Antwortmöglichkeiten von „sehr negativ“ bis „sehr positiv“ zur Auswahl.

Positive und negative Erwartungen halten sich weitgehend die Waage

Die meisten Agenturen erwarten demnach in ihrem jeweiligen Agenturbezirk gar keine Beschäftigungseffekte, weder bei der Beschäftigung insgesamt (91%) noch bei der sozialversicherungspflichtigen (86%) oder der geringfügigen Beschäftigung (70%). Die Anteile mit positiven oder negativen Erwartungen sind bei allen drei Beschäftigungsgruppen niedrig und halten sich zudem fast die Waage (siehe Abbildung 1, erste Balkenreihe). Es bestehen außerdem kaum regionale Muster bei den Antworten, insbesondere nicht im Hinblick auf Ost- und Westdeutschland.

Auffällig ist, dass die aktuellen Einschätzungen im Schnitt weniger skeptisch ausfallen als bei der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015. Im Vorfeld dieser Einführung, im Dezember 2014, hatte immerhin circa ein Fünftel der Agenturen Beschäftigungsverluste befürchtet. Seinerzeit überwogen die negativen Einschätzungen die positiven bei Weitem (siehe Abbildung 1, zweite Balkenreihe).

Abbildung 1 zeigt die erwarteten Beschäftigungseffekte des Mindestlohns aus Sicht der Arbeitsagenturen im Zeitvergleich. Sowohl bei der Einführung des Mindestlohns als auch bei der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ging die Mehrheit der Agenturen davon aus, dass dies keine Auswirkungen auf die Beschäftigung hat. Dies gilt insbesondere für die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, mit Abstrichen auch für die geringfügige Beschäftigung. Während sich aber die positiven und die negativen Erwartungen bei der Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro die Waage hielten, gab es bei der Einführung deutlich mehr negative als positive Erwartungen. Quelle: Befragung aller regionalen Agenturbezirke durch die Bundesagentur für Arbeit. © IAB

Tatsächlich gab es laut einer 2020 erschienenen Studie von Mario Bossler und Hans-Dieter Gerner damals einen negativen Beschäftigungseffekt. Er fiel jedoch mit rund 60.000 Jobs recht moderat aus  und blieb sehr deutlich unter den damals kursierenden Negativszenarien. 2022 dürfte der induzierte Anstieg der Lohnsumme aber höher liegen als bei der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015. Betrachtet man nur diese Größe, so wäre diesmal ein größerer negativer Beschäftigungseffekt zu erwarten als damals.

Verschiedene Studien legen zudem nahe, dass sich eine starke Erhöhung des Mindestlohns zumindest in bestimmten Branchen deutlich negativ auf die Beschäftigung auswirken kann. Genannt seien hier zum Beispiel die Beiträge von Gabriel Ahlfeldt und anderen aus dem Jahr 2022 sowie von Maximilian Joseph Blömer und anderen aus dem Jahr 2018. Viele Firmen im Niedriglohnbereich sind außerdem durch die Corona-Krise finanziell belastet, was etwaige Negativwirkungen des Mindestlohns auf die Beschäftigung verstärken könnte.

Die Knappheit an Arbeitskräften hat ein neues Rekordhoch erreicht

Warum sind die Agenturen derzeit also nicht pessimistischer? Eine Rolle für die aktuell wesentlich neutralere Erwartungshaltung spielt die stark wachsende Knappheit an Arbeitskräften. So hat der Arbeitskräfteknappheits-Index im August mit 5,2 Punkten ein neues Rekordhoch erreicht (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2 zeigt den Verlauf des Arbeitskräfteknappheits-Index von Juni 2018 bis August 2022 auf einer Skala von 0 bis 10. Bis Ende 2019 lag dieser zwischen 4,9 und 4,4, fiel im Frühjahr 2020 auf einen Wert von 3,0 und stieg zwischen Mitte 2021 und August 2022 wieder auf einen Wert von über 5,0. Quelle: Monatliche Befragung aller 155 regionalen Agenturbezirke durch die Bundesagentur für Arbeit. © IAB

Dabei erwarten Agenturen, die eine größere Knappheit an Arbeitskräften beim Stellenbesetzungsprozess melden, tendenziell auch positivere Effekte der Mindestlohnerhöhung auf die geringfügige Beschäftigung. Während hier ein statistisch signifikanter Zusammenhang (auf dem 5%-Niveau) besteht, ist dieser Zusammenhang bei der Beschäftigung insgesamt sowie der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nicht signifikant.

Fazit

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die aktuellen Arbeitskräfteengpässe die Effekte des Mindestlohns auf die Arbeitsnachfrage abschwächen, zumindest bezüglich der geringfügigen Beschäftigung. Mit anderen Worten: Dass Arbeitskräfte deutlich knapper geworden sind, trägt dazu bei, dass die Mindestlohnerhöhung die betriebliche Nachfrage nach Arbeitskräften weniger stark dämpft, als dies ansonsten der Fall wäre. Denn viele Betriebe sind dann ohnehin gezwungen, ihre Löhne zu erhöhen, um als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben. Umgekehrt kann ein höherer Mindestlohn dazu beitragen, dass Menschen eher bereit sind, ihre Arbeitskraft anzubieten.

Die Arbeitskräfteknappheit verbessert also die Chancen, dass Beschäftigte gehalten werden oder Personen nach einem Jobverlust schnell wieder Arbeit bei anderen, eventuell produktiveren Arbeitgebern finden. Dies legen auch die Befunde einer aktuellen Analyse von Christian Dustmann und anderen nahe. Sabine Klinger und Enzo Weber wiederum kommen in einer 2020 veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis, dass Arbeitskräfteknappheit Beschäftigungstrends unabhängiger von aktuellen Geschehnissen macht. Anders formuliert: Der Arbeitsmarkt wird resistenter gegenüber negativen externen Einflüssen.

Die aktuell hohe Inflation könnte auch das allgemeine Nominallohnniveau angehoben haben, so dass die Erhöhung des Mindestlohns weniger ins Gewicht fällt. Insofern sind die Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt für die aktuell anstehende Erhöhung des Mindestlohns noch günstiger, als sie es bereits 2015 bei der Einführung waren. Dies scheint sich in den aktuellen Einschätzungen der Arbeitsagenturen widerzuspiegeln.

Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die realwirtschaftlichen und geopolitischen Rahmenbedingungen derzeit weitaus trüber sind als 2015. Sollte sich diese Situation nochmals massiv verschlechtern, so dürfte dies am Arbeitsmarkt nicht spurlos vorbeigehen. In einem solchen Szenario könnte die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder sinken und die anstehende Erhöhung des Mindestlohns sich negativer auf die Beschäftigung auswirken, als es die jüngsten Einschätzungen aus den Arbeitsagenturen erwarten lassen.

Literatur

Ahlfeldt, Gabriel; Roth, Duncan; Seidel, Tobias (2022): Optimal minimum wages. CEPR discussion paper No. 16913.

Blömer, Maximilian Joseph; Gürtzgen, Nicole; Pohlan, Laura;  Stichnoth, Holger; van den Berg, Gerard (2018): Unemployment Effects of the German Minimum Wage in an Equilibrium Job Search Model. ZEW Discussion Paper No. 32.

Bossler, Mario; Gerner, Hans Dieter (2020): Employment Effects of the New German Minimum Wage – Evidence from Establishment-level Micro Data, Industrial and Labor Relations Review, Vol. 73, No. 5, S. 1070-1094.

Dustmann, Christian; Lindner, Attila; Schönberg, Uta; Umkehrer, Matthias; vom Berge, Philipp (2022): Reallokationseffektete des deutschen Mindestlohns. In: Ökonomenstimme, 08.10.2021.

Hutter, Christian; Weber, Enzo (2016): Befragung der Arbeitsagenturen zu Beschäftigungswirkungen des Mindestlohns. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Aktuelle Berichte Nr. 26.

Klinger, Sabine; Weber, Enzo (2020): GDP-Employment Decoupling in Germany. In: Structural Change and Economic Dynamics, Vol. 52, S. 82-98.

In aller Kürze

  • Zum 1. Oktober 2022 wird der allgemeine gesetzliche Mindestlohn um circa 15 Prozent von aktuell 10,45 auf 12 Euro erhöht.
  • Laut einer Befragung der 155 Agenturbezirke der Bundesagentur für Arbeit erwartet die große Mehrheit keine Beschäftigungseffekte.
  • Wenn Effekte erwartet werden, halten sich positive und negative Einschätzungen fast die Waage.
  • Agenturbezirke, die eine höhere Arbeitskräfteknappheit melden, erwarten tendenziell positivere Effekte der Mindestlohnerhöhung für die geringfügige Beschäftigung.

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20220913.01

Hutter, Christian; Weber, Enzo (2022): Die Arbeitsagenturen erwarten von der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro mehrheitlich keine Auswirkungen auf die Beschäftigung, In: IAB-Forum 13. September 2022, https://www.iab-forum.de/die-arbeitsagenturen-erwarten-von-der-erhoehung-des-mindestlohns-auf-12-euro-mehrheitlich-keine-auswirkungen-auf-die-beschaeftigung/, Abrufdatum: 27. April 2024