Die Bundesregierung plant die Einführung einer Kindergrundsicherung ab dem Jahr 2025. Sie soll die bisherigen finanziellen Unterstützungen in der Familienförderung in einer Förderleistung bündeln, um Familien zu stärken und mehr Kinder aus der Armut zu holen. Kinder und Jugendliche sollen dabei aus dem Bürgergeldbezug herausgelöst werden. Eine unbeabsichtigte Nebenwirkung könnte jedoch sein, dass damit verknüpfte Prozessdaten von Eltern im Bürgergeldbezug und deren Kindern nicht mehr bereitstehen. Welche potenziell dramatischen Folgen sich daraus für die einschlägige IAB-Forschung ergeben, erläutern Kerstin Bruckmeier, Philipp Ramos Lobato und Joachim Wolff im Interview für das IAB-Forum.

Was bedeutet die Einführung der Kindergrundsicherung für die Wirkungsforschung des IAB zum Bürgergeld?

Philipp Ramos Lobato

Dr. Philipp Ramos Lobato ist Mitarbeiter in der Stabsstelle Forschungskoordination am IAB

Philipp Ramos Lobato: Die Forschung zur Situation von Kindern und Jugendlichen, die selbst beziehungsweise deren Eltern auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen sind, bildet seit 2005 eine zentrale Säule der Wirkungsforschung. Und das aus guten Gründen. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende sichert das Existenzminimum von Haushalten ab, im Vokabular des Gesetzes: von Bedarfsgemeinschaften. Entsprechend muss auch die Forschung den ganzen Haushalt, die ganze Familie in den Blick nehmen. Andernfalls forscht man an der Lebenswirklichkeit der Leistungsbeziehenden vorbei und verliert wichtige Zusammenhänge aus dem Blick, etwa wenn es um die Erwerbsbeteiligung der Eltern oder die Bildungs- und Erwerbsperspektiven der jungen Menschen geht und wie beides miteinander zusammenhängt. Daher ist es aus unserer Sicht unverzichtbar, dass eine solche ganzheitliche Forschungsperspektive auch nach Einführung der Kindergrundsicherung möglich bleibt.

Die Forschung zur Situation von Kindern und Jugendlichen ist seit 2005 eine zentrale Säule der Grundsicherungsforschung.

Kerstin Bruckmeier: Bisher kann das IAB in seiner Forschung zur Grundsicherung Informationen zu allen erwerbsfähigen und nicht erwerbsfähigen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft nutzen. Kennt man deren Zusammensetzung, sind auch Untersuchungen für bestimmte Gruppen möglich, zum Beispiel Alleinerziehende oder Paare mit mehreren Kindern. Ein großer Vorteil besteht darin, dass das Alter der im Haushalt lebenden Kinder und Jugendlichen in den Daten abgebildet wird. Damit kann der Haushaltskontext detailliert in eine Untersuchung einbezogen werden, etwa im Hinblick auf die Erwerbsbeteiligung der Eltern oder die Bildungsphasen der Kinder.

Joachim Wolff: Mit der geplanten Einführung der Kindergrundsicherung droht uns möglicherweise ein folgenschwerer Rückschlag bei den verfügbaren Forschungsdaten. Daher muss sichergestellt werden, dass die Daten von Kindern und Jugendlichen gemeinsam mit den Angaben aller anderen Personen in einem Haushalt, der Bürgergeld erhält, auch eindeutig in den entsprechenden Prozessdaten identifiziert und weiter ausgewertet werden können. Und das gilt vor, während und nachdem ein Haushalt Bürgergeldleistungen bezogen hat.

Lassen sich die Daten über Kinder in Bedarfsgemeinschaften nicht auch durch Befragungen gewinnen?

Kerstin Bruckmeier

Dr. Kerstin Bruckmeier leitet die Forschungsgruppe
„Grundsicherungsbezug und Arbeitsmarkt“ am IAB.

Bruckmeier: Befragungsdaten sind ganz zentral für die Beantwortung bestimmter Forschungsfragen, die mit den Prozessdaten nicht untersucht werden können. Dazu gehören zum Beispiel die soziale Lage und die materielle Ausstattung von Haushalten im Leistungsbezug. Das IAB hat hier beispielsweise mit dem Panel „Arbeitsmarkt- und soziale Sicherung“ (PASS) eine wichtige Forschungsdatengrundlage geschaffen. Es gibt auch spezielle Befragungen bei einem spezifischen Erkenntnisbedarf, wie aktuell beim Thema „Sozialer Arbeitsmarkt“.

Im Vergleich zu Befragungsdaten haben die Prozessdaten allerdings bei bestimmten Fragestellungen entscheidende Vorteile. Sie ermöglichen es unter anderem, Erwerbsbiografien über lange Zeiträume zu betrachten oder sehr differenziert bestimmte Gruppen im Leistungsbezug zu untersuchen. In den Befragungsdaten wäre die Zahl der Beobachtungen dafür zu gering. Und Prozessdaten ergänzen auch Befragungsdaten wie die des PASS, indem letztere bei Zustimmung der Befragten mit den Prozessdaten verknüpft werden. Dies deckt weitergehende Erkenntnisbedarfe und schließt Lücken, wenn Sachverhalte in der Befragung nicht ermittelt werden können oder wenn Befragte nicht mehr an der Befragung teilnehmen.

Prozessdaten haben bei bestimmten Fragestellungen entscheidende Vorteile gegenüber Befragungsdaten.

Wolff: Uns geht es hier zum guten Teil um arbeitsmarkt- und sozialpolitische Fragestellungen, die nur mit sehr hohen Fallzahlen und daher großen Stichproben oder einer Grundgesamtheit untersucht werden können. Daher kommt die Alternative, mit Befragungen zu arbeiten, die typischerweise aus Kostengründen auf kleinen Stichproben basieren, nicht in Frage. Oft auch deshalb nicht, weil Befragungen es nicht erlauben, zeitliche Verläufe in hoher Frequenz und über einen langen Zeitraum nachzuzeichnen. Dies ist für die Analyse vieler arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Fragestellungen jedoch unabdingbar.

Welche Konsequenzen könnte es haben, wenn keine Angaben mehr über die Kinder von Bürgergeld-Berechtigten in den Prozessdaten der Statistik der Bundesagentur für Arbeit verfügbar wären?

Ramos Lobato: Tatsächlich wären die Konsequenzen drastisch. Um es mal klar zu sagen: Ohne Informationen zum Haushaltskontext in den Prozessdaten der Statistik der Bundesagentur für Arbeit wäre ein wichtiger Teil unseres gesetzlichen Forschungsauftrags nicht mehr wie bisher zu erfüllen. Und das hätte auch zur Folge, dass wir viele Fragen aus Politik und Verwaltung nicht mehr fundiert beantworten könnten. Schließlich forschen wir ja nicht allein für den akademischen Diskurs, sondern beraten mit unseren Ergebnissen eine Vielzahl an Akteuren im politischen Bereich, etwa den Deutschen Bundestag, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales oder die Bundesagentur für Arbeit. Wir stehen in dieser Angelegenheit daher selbstverständlich in engem Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen des Arbeitsministeriums, die uns hierzu frühzeitig zu Rate gezogen haben.

Ohne Informationen zum Haushaltskontext könnte das IAB einen wichtigen Teil seines gesetzlichen Forschungsauftrags nicht mehr erfüllen.

Welche Forschungsfragen könnten in diesem Fall ganz konkret nicht mehr beantwortet werden?

Joachim Wolf

Dr. Joachim Wolff leitet den Forschungsbereich „Grundsicherung und Aktivierung“ am IAB.

Wolff: Dass wir bisher Kinder und Eltern in einer Bedarfsgemeinschaft in den für Forschungszwecke verfügbaren administrativen Daten vorliegen haben, die wir auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Leistungsbezug in betrieblicher Ausbildung oder abhängiger Beschäftigung weiter beobachten können, ist von unschätzbarem Wert für Forschung und Beratung zu intergenerationalen Fragestellungen.

Worin genau liegt dieser unschätzbare Wert?

Wolff: Damit können wir untersuchen, wie sich ein Grundsicherungsbezug während der Jugend oder Kindheit auf den späteren Erfolg am Arbeitsmarkt auswirkt und wie man etwaigen nachteiligen Auswirkungen mit Fördermaßnahmen für Jugendliche und junge Erwachsene entgegenwirken kann. Und wir können analysieren, inwieweit durch die Arbeitsförderung von Eltern die Integration der Kinder in Ausbildung und Arbeit besser gelingt und so eine Verfestigung von Armut über die Generationen hinweg vermieden werden kann.

Können Sie weitere Beispiele nennen?

Bruckmeier: Ja, ein weiteres Beispiel sind Untersuchungen zur sogenannten Transferentzugsrate, also dem Anteil des Erwerbseinkommens, der Leistungsbeziehenden verbleibt, wenn sie sich etwas hinzuverdienen. Denn die Wirkung des Steuer- und Transfersystems wird maßgeblich durch den Haushaltskontext bestimmt.

Wolff: Auch die Arbeitsmarktchancen und Unterstützungsbedarfe von Leistungsbeziehenden hängen mit davon ab, ob sie alleine leben, alleinerziehend sind oder in Paarbedarfsgemeinschaften leben und wie viele Kinder im Haushalt wohnen. Das Alter der Kinder ist ebenfalls ein zentraler Aspekt, da sich bei Erreichen bestimmter Altersgrenzen, zum Beispiel wegen des Übergangs in die Schule, wichtige Rahmenbedingungen ändern.

Es geht auch um gleichstellungspolitische Fragen.

Geht es hier auch um gleichstellungspolitische Fragen?

Wolff: Absolut! Ohne diese Angaben lässt sich nicht untersuchen, inwieweit Mütter mit Kindern unterschiedlichen Alters den gleichen Zugang zu Fördermaßnahmen haben wie Väter oder Kinderlose, oder ob sich Fördermaßnahmen für diese Gruppen unterschiedlich auswirken. Wer ernsthaft an Forschung zu gleichstellungpolitischen Themen in der Grundsicherung interessiert ist, muss dafür sorgen, dass diese Informationen erhalten bleiben. Das sollte für eine Regierung, die für gesellschaftlichen Fortschritt stehen möchte, höchste Priorität haben.

Was muss getan werden, um die Forschung zum Bürgergeld nicht zu gefährden?

Bruckmeier: Wir müssen weiterhin auf einer einheitlichen Datenbasis aufbauen können. Diese muss neben den individuellen Leistungsbezugs- und Erwerbsverläufen von erwerbsfähigen Bürgergeldbeziehenden auch die Haushaltsmitglieder und deren Beziehungen zueinander beinhalten. Derzeit stellt das IAB der Forschungsgemeinschaft solch eine Datengrundlage mit der „Stichprobe Integrierte Grundsicherungsbiografien“ zur Verfügung.

Wolff: Konkret müssten mit der Einführung der Kindergrundsicherung die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass diese Daten weiter in die Prozessdaten eingehen und dauerhaft ihrer Bedarfsgemeinschaft zugeordnet werden können. Und sie sollten wie bisher alle relevanten persönlichen Merkmale wie Geburtsdatum und Geschlecht enthalten, auch wenn die Angaben dann nicht mehr durch die Jobcenter, sondern durch eine andere Institution erfasst werden.

Und was wäre dafür zu tun?

Wolff: Das Bundesfamilienministerium müsste dies bei der Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs berücksichtigen und sich dazu mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der Bundesagentur für Arbeit abstimmen. Zudem sollte hier auch die Forschung in beratender Funktion eingebunden sein, nicht zuletzt weil das nicht allein das IAB betrifft, sondern auch Forschende an anderen Einrichtungen, die diese Daten für ihre Studien nutzen. Wenn diese Datengrundlage nicht in der bisherigen Qualität erhalten bleibt, würde die Forschung zur Grundsicherung für Arbeitsuchende weit mehr auf Auswertungen anderer Datenquellen – insbesondere auf zusätzliche aufwändige und kostspielige Befragungen – setzen müssen, und die Forschung zu den genannten Themen würde dennoch nicht eine gleichwertige Qualität erreichen. Und unter Umständen können bestimmte Forschungsfragen einfach nicht mehr zuverlässig untersucht werden.

Ramos Lobato: Ich kann das nur bekräftigen. Die Politik ist gefordert, eine tragfähige, datenschutzrechtlich kompatible und technisch handhabbare Lösung zu schaffen, um die Daten der Bürgergeld-Berechtigten mit denen ihrer Kindergrundsicherung beziehenden Kindern zu verknüpfen. Andernfalls gehen wir hinter einen seit Jahren etablierten Standard in Forschung und Politikberatung zurück. Das ist definitiv nicht im Interesse der Forschung und kann auch nicht im Interesse der Politik sein.

 

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20230828.01

Schludi, Martin (2023): „Mit der Kindergrundsicherung droht möglicherweise ein folgenschwerer Rückschlag bei den verfügbaren Forschungsdaten“, In: IAB-Forum 28. August 2023, https://www.iab-forum.de/mit-der-kindergrundsicherung-droht-moeglicherweise-ein-folgenschwerer-rueckschlag-bei-den-verfuegbaren-forschungsdaten/, Abrufdatum: 29. April 2024