Der kürzlich veröffentlichte Beschäftigungsausblick der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt einen deutlichen Rückgang der Reallöhne in nahezu allen OECD-Ländern. Geringverdienende haben den kleinsten Spielraum, diesen Kaufkraftverlust durch Ersparnisse oder Kredite aufzufangen. Gleichzeitig ist die effektive Inflationsrate für sie besonders hoch, da sie einen größeren Anteil ihrer Ausgaben für Energie und Lebensmittel aufwenden, deren Preise besonders stark gestiegen sind. Die OECD-Länder haben auf diese Preisschocks vor allem im Niedriglohnbereich unterschiedlich reagiert.

Um diese Themen ging es auch in einer gemeinsamen Veranstaltung des OECD Berlin Centre und des IAB, die am 12. Oktober 2023 in der Reihe „OECD-Gesellschaftssalon“ stattfand. Die OECD-Arbeitsmarktexperten Stéphane Carcillo und Andrea Salvatori zeigten zu Beginn auf der Basis des jüngst erschienenen OECD-Beschäftigungsausblicks, dass die durchschnittlichen Reallöhne in Deutschland 2022 zwar zurückgegangen sind. Der deutliche Anstieg des Mindestlohns hat aber dazu geführt, dass es keine Reallohnverluste bei Niedrigverdienenden gab. In der Mehrheit der OECD-Länder konnten die staatlich gesetzten Mindestlöhne aufgrund diskretionärer Steigerungen mit der Inflation bis Mitte 2023 Schritt halten.

Allerdings verzeichnen nur wenige Länder wie Deutschland einen realen Zuwachs für Niedrigverdienende. Demgegenüber steigen die Tariflöhne in den meisten Ländern, so auch in Deutschland, mit Blick auf die Preissteigerungen zeitverzögert, sodass die Tariflohnsteigerungen im Jahr 2022 unter der Inflation geblieben sind. In vielen OECD-Ländern sind die Löhne insgesamt weniger stark als die Gewinne gewachsen.

Im Anschluss an die Eingangsreferate wurde die Thematik in einer Expertenrunde aus Politik und Praxis vertieft, die von Nicola Brandt, Leiterin des OECD Centre Berlin, moderiert wurde. An der Runde beteiligten sich Almut Balleer, Professorin für Empirische Wirtschaftsforschung an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, Dr. Susanne Blancke,  Unterabteilungsleiterin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, und IAB-Direktor Professor Bernd Fitzenberger.

Blancke: „Die Löhne der Niedrigeinkommensbezieher sind im Jahr 2022 stärker gestiegen.“

Susanne Blancke betrachtet es als gute Nachricht, dass in Deutschland die Reallöhne bei den Menschen, die niedrige Einkommen beziehen, stärker als bei anderen Gruppen gestiegen sind. Dies gelte auch im internationalen Vergleich. Augenscheinlich haben die Entlastungsmaßnahmen der deutschen Bundesregierung noch „Schlimmeres“ verhindert. Für die bevorstehenden Tarifverhandlungen hoffe sie auf „ordentliche“ Tarifabschlüsse und eine Fortsetzung der Entwicklung hin zu einer niedrigeren Inflation.

Bernd Fitzenberger betonte, dass die Beschäftigten mit niedrigen Arbeitseinkommen zwischen 2019 und 2021 wegen der Covid-19-Pandemie deutliche Realeinkommensverluste hinnehmen mussten. Diese konnten aber für die meisten Beschäftigten mit sehr niedrigen Löhnen durch die Mindestlohnerhöhungen im Jahr 2022 kompensiert werden. Außerdem erwiesen sich die Entlastungsmaßnahmen zur Abfederung des Preisschocks insbesondere im Energiebereich gerade für Niedrigeinkommensbeziehende als sehr wirksam. Insgesamt sieht Fitzenberger keinen Hinweis auf eine Lohn-Preis-Spirale, da die Löhne zwar zeitverzögert auf die Inflation reagieren, diese aber nicht befeuern.

Balleer: „Unsicherheit ist das große Problem.“

Almut Balleer wies auf die Unsicherheit bezüglich der weiteren Preisentwicklung als ein großes Problem hin. Die Tarifvertragsparteien versuchten sich durch kürzere Laufzeiten von Tarifverträgen darauf einzustellen. Neben den Energiepreisen betonte sie auch die Bedeutung von Lieferproblemen und Verschiebungen der Nachfrage nach knappen Gütern und Rohstoffen, zum Beispiel durch die Energiewende. Diese könnte auch mittelfristig ein höheres Inflationsniveau als vor der Corona-Krise verursachen.

Susanne Blancke betonte das erfolgreiche Handeln der Bundesregierung 2022. Jedoch ließen sich die Maßnahmen nicht dauerhaft fortsetzen. Personen, die nicht mehr im Sozialleistungsbezug stehen und trotzdem unterdurchschnittliche Einkommen haben, seien relativ zum Einkommen am stärksten belastet. Für Bezieher von höheren Einkommen sei die Teuerung nicht ganz so problematisch. Diese Verteilungsproblematik sei aktuell groß.

Fitzenberger: „Die Arbeitsmarktchancen von Niedrigeinkommensbeziehenden haben sich verbessert.“

Auch Bernd Fitzenberger sieht diese Verteilungsproblematik. Er ist aber etwas optimistischer als Susanne Blancke, weil sich die Arbeitsmarktchancen auch von Niedrigverdienenden aufgrund der gestiegenen Arbeitskräfteknappheit verbessert hätten. Daher seien auch lohnsteigernde Effekte der Mindestlohnerhöhungen oberhalb des neuen Mindestlohns festzustellen.

Blancke: „Transformation im Blick behalten.“

Susanne Blancke verwies auf die Notwendigkeit, die ökologische Transformation im Blick zu behalten und aus Arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sicht zu begleiten. Stéphane Carillo berichtete über durch die Nutzung von künstlicher Intelligenz ausgelösten Ängste, aber auch die damit verbundene Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Lohnerhöhungen sind nach Meinung von Fitzenberger kein Allheilmittel gegen den Arbeitskräftemangel. Er unterstrich, dass der deutsche Arbeitsmarkt sehr robust sei, vor allem weil die Unternehmen wegen der Arbeitskräfteknappheit zögern, Beschäftigte zu entlassen. Susanne Blancke führte aus, dass angesichts der Transformation wirksame Sach- und Humankapitalinvestitionen notwendig sind, um die Attraktivität des Standorts Deutschland zu sichern.

Einen Videomitschnitt und die Präsentationsfolien zur Veranstaltung finden Sie auf dem Deutschlandblog der OECD.

 

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DOI: IAB.FOO.20231027.02

Bellmann, Lutz; Fitzenberger, Bernd (2023): Lohnentwicklung im inflationären Umfeld, In: IAB-Forum 27. Oktober 2023, https://www.iab-forum.de/lohnentwicklung-im-inflationaeren-umfeld/, Abrufdatum: 28. April 2024