Die Corona-Krise hat nicht nur Deutschland, sondern auch andere Länder vor immense wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Herausforderungen gestellt. Die politischen Antworten darauf fielen jedoch von Land zu Land unterschiedlich aus. Zu diesem Fazit gelangte eine hochkarätig besetzte internationale Tagung, die vom 31. August bis 4. September 2022 in Italien stattfand.

Anlässlich seines 20-jährigen Bestehens organisierte das renommierte Centre for Research & Analysis of Migration (CReAM) am University College London (UCL) Anfang September 2022 in Nizza Monferrato (Italien) eine hochkarätig besetzte internationale Tagung zu aktuellen Themen der Arbeitsmarktforschung und Arbeitsmarktpolitik. Das von Christian Dustmann, Professor für Ökonomie am UCL, gegründete und geleitete Institut genießt insbesondere auf dem Feld der Migrationsforschung einen ausgezeichneten Ruf und kooperiert hier und bei anderen Forschungsthemen seit vielen Jahren eng mit dem IAB. So ist jüngst beispielsweise eine gemeinsame Studie zu den Wirkungen der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland erschienen.

Zu den Höhepunkten der CReAM-Jubiläumskonferenz gehörte die Paneldiskussion „Labor Shortage, Wages and Inequality: Policy Challenges after Covid”: Expertinnen und Experten aus den USA, Kanada, Australien, Deutschland und Italien diskutierten die Erfahrungen und den Umgang ihrer Länder mit den Folgen der Covid-19-Pandemie für Wirtschaft und Arbeitsmarkt.

Farber: Die Corona-Krise hat bei vielen US-Arbeitskräften zu einer „Great Resignation“ geführt

Für die USA zeigte Henry Farber, Ökonomieprofessor an der Princeton University, dass die Arbeitslosigkeit dort im Frühjahr 2020 in einer bisher nie gesehenen Geschwindigkeit nach oben schnellte. Die USA reagierten auf diesen Anstieg mit für dortige Verhältnisse sehr großzügig ausgestalteten Transferzahlungen an Arbeitslose. Seit dem Sommer 2020 baute sich die Arbeitslosigkeit wieder kontinuierlich ab. Inzwischen liegt sie sogar unterhalb des Vorpandemie-Niveaus.

Gleichzeitig, so Farber, habe sich der US-Arbeitsmarkt durch die Corona-Krise strukturell verändert: Die Zahl der offenen Stellen liegt nunmehr, ähnlich wie in Deutschland, auf Rekordniveau. Viele Arbeitskräfte wollen nach Einschätzung des Ökonomen nicht zu ihren früheren Arbeitgebern zurückkehren, insbesondere nicht, wenn dies in Präsenz erfolgen soll, oder haben den Arbeitsmarkt ganz verlassen. Dieses Phänomen der „Great Resignation“ ist bei älteren Frauen am ausgeprägtesten.

Zudem haben sich laut Farber die Passungsprobleme, der sogenannte Mismatch, zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen sehr stark erhöht. Demnach stehen einer gegebenen Zahl von Arbeitslosen inzwischen sehr viel mehr unbesetzte offene Stellen gegenüber. Farber empfiehlt, dieser Arbeitskräfteknappheit durch Lohnerhöhungen zu begegnen, wodurch sich auch die Erwerbsbeteiligung steigern ließe. Die US-amerikanische Politik solle zu diesem Zweck geeignete Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung beschließen, da die Gewerkschaften eher als einzelne Beschäftigte in der Lage seien, Lohnerhöhungen durchzusetzen.

Fortin: Umfangreiche staatliche Transfers an die Privathaushalte haben die Einkommensungleichheit in Kanada während der Pandemie reduziert

Nicole Fortin, Professorin an der University of British Columbia in Vancouver, richtete ihren Blick auf die Situation in Kanada. Dort habe die Politik im Jahr 2020 sehr schnell massive Eindämmungsmaßnahmen verabschiedet, von denen aber einzelne Branchen und Regionen sehr unterschiedlich betroffen waren.

Viele Beschäftigte seien in der Folge aus den betroffenen Bereichen in andere Beschäftigungsmöglichkeiten gewechselt, insbesondere wenn sie ihre indivduellen Qualifikationen in alternativen Jobs nutzen konnten. So hätten beispielsweise viele Angehörige des Bodenpersonals an Flughäfen, das mit der Abfertigung von Fluggepäck betraut war, eine neue Stelle bei Amazon gefunden. Ältere Beschäftigte, deren vielfach betriebsspezifische Qualifikationen während der Pandemie nicht mehr gefragt waren, hätten hingegen in größerer Zahl den Arbeitsmarkt verlassen, so die Ökonomin.

Im Ergebnis ist, ähnlich wie in Deutschland und den USA, auch in Kanada in krisenbetroffenen Branchen ein starker Personalmangel zu beobachten. Fortin führte weiter aus, dass umfangreiche staatliche Transfers die Einkommensverluste für die privaten Haushalte sehr stark abgefedert hätten, vor allem im Niedrigeinkommensbereich. Durch diese Unterstützungszahlungen sank auch die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen. Zugleich konnten sich Menschen in dieser Zeit der Nichterwerbstätigkeit dank der Unterstützungszahlungen beruflich weiterbilden.

Gregory: In Australien wurden Unternehmen für pandemiebedingte Verluste in Einzelfällen sogar überkompensiert

Australien versuchte ebenfalls, die wirtschaftlichen Auswirkungen der starken Eindämmungsmaßnahmen durch umfangreiche Lohnsubventionen aufzufangen, wie Professor Bob Gregory von der Australian National University in Canberra ausführte. Ein bemerkenswerter Unterschied zu Deutschland: Diese Subventionen wurden den Unternehmen für alle Beschäftigten in gleicher Höhe ausbezahlt – unabhängig vom Umfang der regulären Arbeitszeit und vom Umfang der tatsächlichen Arbeitszeit in der Pandemie. Hierdurch wurden also nicht nur Einnahmeverluste ausgeglichen, sondern Unternehmen für pandemiebedingte Verluste in Einzelfällen sogar überkompensiert. Zugleich konnten Entlassungen weitgehend vermieden werden, allerdings um den Preis, dass die Staatsausgaben in der Folge sehr stark angestiegen sind.

Spitz-Oener: Es geht darum, Beschäftigungsfähigkeit und -bereitschaft von möglichst vielen Menschen zu erhöhen

Mit der Situation in Deutschland befasste sich Alexandra Spitz-Oener, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin und auch am IAB wissenschaftlich tätig. In ihrer Präsentation beschrieb sie den längerfristigen Trend der Verknappung von Fachkräften und später auch von anderen Arbeitskräften in Deutschland, der schon vor der Covid-19-Krise eingesetzt hatte und sich durch die Krise nochmals beschleunigte.

Aktuelle Prognosen des IAB zeigen, dass das Erwerbspersonenpotenzial drastisch zurückgehen wird, wenn es nicht zu einer dauerhaft hohen Nettozuwanderung kommt. Laut Spitz-Oener sollte dem Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials jedoch auch durch eine weitere Steigerung der Erwerbstätigkeit beziehungsweise der Arbeitszeit von Frauen, der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen sowie in qualitativer Hinsicht durch eine intensivere Qualifizierung begegnet werden. Ziel müsse es sein, die Beschäftigungsfähigkeit und -bereitschaft von möglichst vielen Menschen zu erhöhen.

Boeri: Kurzarbeit hat in Italien sehr erfolgreich einen Einbruch am Arbeitsmarkt verhindert

Professor Tito Boeri, Ökonom an der Bocconi Universität in Mailand, betonte die Bedeutung der Kurzarbeit für zahlreiche europäische Länder. Die Kurzarbeit habe in Italien sehr erfolgreich einen Einbruch am Arbeitsmarkt verhindert. Ähnlich wie Spitz-Oener wies er aber auch auf die stark negativen Effekte der Pandemie im Bildungsbereich hin.

Dustmann: Modell des Kurzarbeitergeldes ist auch für die angelsächsischen Länder zu empfehlen

Portraitfoto Dustmann

Prof. Christian Dustmann ist Direktor und Gründer des Centre for Research & Analysis of Migration (CReAM) am University College London sowie IAB Research Fellow.

Christian Dustmann und Bernd Fitzenberger, Direktor des IAB und Professor für Quantitative Arbeitsökonomik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, pflichteten Boeri ausdrücklich in der positiven Einschätzung der Kurzarbeit bei. So empfahl Dustmann das flexible Modell des konjunkturellen Kurzarbeitergeldes auch den angelsächsischen Ländern, das dort bis zur Wirtschafts- und Finanzkrise weitgehend unbekannt war, zur Nachahmung.

Fitzenberger: Verknüpfung von Kurzarbeit mit beruflicher Weiterbildung ist kaum gelungen

Fitzenberger wies in diesem Kontext darauf hin, dass für die erfolgreiche Stabilisierung des deutschen Arbeitsmarktes durch die Kurzarbeit auch die schnelle administrative Abwicklung und Auszahlung der Mittel an die Betriebe durch die Bundesagentur für Arbeit entscheidend gewesen sei. Gleichzeitig verwies er jedoch auf die Problematik, dass ein langer Bezug von Kurzarbeitergeld mittelfristig die Reallokation von Arbeitskräften in neue, produktive Beschäftigungsfelder verlangsamen könne. Zudem sei es in Deutschland trotz des erklärten politischen Willens kaum gelungen, Kurzarbeit mit beruflicher Weiterbildung der Betroffenen zu verbinden.

IAB-Workshop beleuchtete verschiedene Aspekte der Lohnentwicklung in den USA und in Deutschland

Im Rahmen der Jubiläumskonferenz fanden zudem insgesamt 18 Workshops statt, die sich mit unterschiedlichen Fragestellungen rund um den Arbeitsmarkt auseinandersetzten. Der von Bernd Fitzenberger, einem der Mitorganisatoren der Tagung, geleitete Workshop befasste sich mit aktuellen Forschungsergebnissen zur Lohnentwicklung in den USA und in Deutschland.

Stephen Machin, Professor an der London School of Economics, präsentierte in seinem Vortrag die Ergebnisse einer gemeinsamen Studie mit Henry Farber zu Lohnunterschieden in den USA zwischen Beschäftigten, die Mitglied in einer Gewerkschaft sind, und solchen, die keiner Gewerkschaft angehören. Mögliche Messfehler bei den Mitgliedschaftsangaben in Umfragedaten wurden dabei mit einem aufwändigen statistischen Verfahren korrigiert.

Insgesamt ist die Tarifbindung in den USA deutlich geringer als in den meisten anderen OECD-Ländern. Gewerkschaftsmitglieder in den Branchen mit vergleichsweise hoher Tarifbindung verdienen gleichwohl im Durchschnitt überproportional gut. Sichtbar wird der Lohnvorteil insbesondere, wenn diese von einer nicht tarifgebundenen in eine tarifgebundene Firma wechseln.

Die Vorträge von Alice Kügler, Assistant Professor an der Central European University in Wien, und Carl Gergs, Ökonom am UCL und am CReAM, befassten sich beide mit Lohnanalysen für Deutschland.

Kügler untersuchte in einer gemeinsamen Studie mit Uta Schönberg, Professorin am UCL und auch am IAB wissenschaftlich tätig, sowie Ines Helm, Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, die Lohnverluste von Beschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe nach Massenentlassungen oder Firmenschließungen. Diese Beschäftigten, so das Ergebnis der Studie, erleiden deutliche Verdiensteinbußen, die noch viele Jahre später nachweisbar sind.

Die Studie zeigt außerdem, dass diese Einbußen zwischen den 1990er Jahren und den 2000er Jahren zunehmen und verstärkt Beschäftigte treffen, deren Löhne schon vor ihrer Entlassung vergleichsweise niedrig waren. Die Lohneinbußen hängen unter anderem damit zusammen, dass diese Beschäftigten häufiger in eine nichtwissensintensive Dienstleistungsbranche mit niedrigeren Löhnen wechseln müssen. Den Beschäftigten, die schon vor der Entlassung überdurchschnittlich hohe Löhne erhielten, gelingt es demgegenüber häufiger, auch danach eine Arbeit in einer wissensintensiven Dienstleistungsbranche zu finden, die deswegen im Regelfall auch besser bezahlt ist.

Carl Gergs zeichnete die Entwicklung der Lohnungleichheit in den 2000er und 2010er Jahren nach, basierend auf gemeinsamen Analysen mit Christian Dustmann und Uta Schönberg. Während die Lohnungleichheit in den 2000er Jahren deutlich zunahm, ist für die 2010er Jahre ein deutlicher Rückgang der Lohnungleichheit zu verzeichnen (ähnliche Ergebnisse zur Entwicklung der Lohnungleichheit bis 2017 hatten Mario Bossler und andere 2020 in einem Beitrag für den ifo-Schnelldienst vorgelegt). Darüber hinaus gingen in den 2000er Jahren die Reallöhne der Geringverdienenden und die Lohnquote zurück. Bei diesen Kenngrößen kam es ebenfalls zu einer deutlichen Trendumkehr in den 2010er Jahren.

Erste Ergebnisse zeigen, dass der Rückgang der Lohnungleichheit in den 2010er Jahren nicht damit zusammenhängt, dass sich die Charakteristika der Beschäftigten hinsichtlich Staatsangehörigkeit, Ausbildung oder Alter verändert haben. Vielmehr dürften dafür andere Ursachen verantwortlich sein, die aber noch näher erforscht werden müssen. So dürfte der gesetzliche Mindestlohn zur Minderung der Lohnungleichheit beigetragen haben, wenn auch nicht als alleiniger Faktor, da die Trendumkehr bereits vor dessen Einführung einsetzte. Eine wichtige Rolle könnte die im Arbeitsmarktboom der 2010er Jahre zunehmende Arbeitsnachfrage spielen –­­­ und eine damit einhergehende Arbeitskräfteknappheit auch im Bereich niedriger Löhne.

Einen Videomitschnitt der Veranstaltung finden Sie auf dem YouTube-Kanal des Centre for Research & Analysis for Migration.

Literatur

Bossler, Mario; Fitzenberger, Bernd; Seidlitz, Arnim (2020): Neues zur Lohnungleichheit in Deutschland. In: Ifo-Schnelldienst, Jg. 73, H. 2, S. 12–16.

Niehues, Judith; Stockhausen, Maximilian; Peichl, Andreas; Bartels, Charlotte; Bossler, Mario; Fitzenberger, Bernd; Seidlitz, Arnim; Kuhn, Moritz; Baldenius, Till; Kohl, Sebastian; Schularick, Moritz;  Kleimann, Rolf (2020): Ungleichheit unter der Lupe – neue politische Antworten auf ein bekanntes Thema. Zur Diskussion gestellt. In: Ifo-Schnelldienst, Jg. 73, H. 2, S. 3–26.

Dustmann, Christian; Lindner, Attila; Schönberg, Uta; Umkehrer, Matthias; vom Berge, Philipp (2022): Reallocation Effects of the Minimum Wage. In: The Quarterly Journal of Economics, Volume 137, Issue 1, S. 267–328.

 

doi: 10.48720/IAB.FOO.20221010.01

 

 

Fitzenberger, Bernd (2022): Auswirkungen der Corona-Krise auf den Arbeitsmarkt: Was lehrt uns der Blick auf andere Länder?, In: IAB-Forum 10. Oktober 2022, https://www.iab-forum.de/auswirkungen-der-corona-krise-auf-den-arbeitsmarkt-was-lehrt-uns-der-blick-auf-andere-laender/, Abrufdatum: 30. April 2024