Matthew Desmond, Professor für Soziologie an der Princeton University, gewährt in einem Interview für das IAB-Forum Einblicke in die hoch prekäre Situation vieler Mieterinnen und Mieter in den USA. Er zeigt die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen der Zwangsräumungskrise auf und skizziert, wie der Wohnungsmarkt stabilisiert werden kann, um Armut zu mindern. Dabei beleuchtet der Experte auch das Zusammenspiel von Wohnungsmarkt und Arbeitsmarkt.

Worin besteht das zentrale Problem der Zwangsräumungskrise?

Das Einkommensniveau von Mietern in den USA hat in den letzten 20 Jahren stagniert. Inflationsbereinigt ist es de facto sogar gefallen, während die Wohnkosten in die Höhe geschossen sind. Die Mietpreise sind überall in den USA erheblich angestiegen, aber die Regierung hat keine Unterstützungsmaßnahmen ergriffen. Nur jeder sechste Mieter, der die Kriterien für Wohnbeihilfe erfüllt, erhält diese Hilfe auch tatsächlich. Die überwiegende Mehrheit erhält keinerlei staatliche Unterstützung bei den Mietkosten. Daraus hat sich eine akute Wohnraumkrise entwickelt. Die meisten Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben und zur Miete wohnen, wenden aktuell mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Miete auf. Das ist der Kern der Zwangsräumungskrise.

Wer ist am schwersten betroffen?

Mütter mit Kindern sind zum Gesicht der Krise geworden. In den Gerichten in den USA, in denen Wohnstreitigkeiten verhandelt werden, wimmelt es vor Kindern in den Korridoren. Zudem hat diese Krise auch eine ausgeprägte ethnische Komponente. Afroamerikanische Frauen – insbesondere Mütter – sind besonders stark von Zwangsräumungen betroffen. Generell ist die Räumungsquote unter afroamerikanischen Mietern doppelt so hoch wie unter weißen Mietern, und auf den Schultern afroamerikanischer Frauen lastet ein unverhältnismäßig hoher Anteil dieser Krise.

Wie erfolgt eine Zwangsräumung in den USA typischerweise?

Zwangsräumungen können aus einer Reihe von Gründen, zum Beispiel Schäden am Mietobjekt, oder ganz ohne Grund erfolgen. In den meisten Fällen ist die Zwangsräumung eine Folge verspäteter oder versäumter Mietzahlungen. In den USA übermittelt der Vermieter dem Mieter dabei eine „pay or quit“-Benachrichtigung: Er fordert den Mieter auf, entweder die fällige Miete zu bezahlen oder auszuziehen. Der Mieter hat üblicherweise drei bis fünf Tage Zeit, dem nachzukommen. Falls er dies nicht tut, eröffnet der Vermieter vor Gericht ein Verfahren gegen den Mieter, das binnen zwei bis drei Wochen beginnen kann. Die Einleitung dieses Verfahrens kostet zwischen 15 und rund 300 US-Dollar.

An den meisten Orten in den USA haben Familien, gegen die ein Zwangsräumungsverfahren eröffnet wird, keinen Anspruch auf einen Anwalt. Sie haben also keinen Rechtsbeistand. Oft erscheinen diese Familien nicht vor Gericht, weil das Verfahren für sie bereits aussichtslos scheint. Wenn sie das Verfahren verlieren, müssen sie bis zu einer offiziell festgesetzten Frist aus dem Mietobjekt ausziehen.  Ist die Familie bis zu dieser Frist nicht ausgezogen, kann der Vermieter das zuständige Sheriff’s Department einschalten. Dessen Beamte setzen dann vor Ort die Räumung durch, indem die Mieter aus dem Gebäude eskortiert und ihre Besitztümer auf der Straße aufgetürmt oder in ein Lager verfrachtet werden.

Unter dem Strich sind Zwangsräumungsverfahren in den USA ein schnelles und kostengünstiges Mittel für den Vermieter mit potenziell verheerenden Folgen für die Mieter. Mit anzusehen, wie eine Familie im wahrsten Sinne des Wortes vor die Tür gesetzt wird, ist herzzerreißend.

Unter dem Strich sind Zwangsräumungsverfahren in den USA ein schnelles und kostengünstiges Mittel für den Vermieter mit potenziell verheerenden Folgen für die Mieter. Mit anzusehen, wie eine Familie im wahrsten Sinne des Wortes vor die Tür gesetzt wird, ist herzzerreißend.

Ist die Situation anders, wenn es sich bei dem Vermieter nicht um eine Privatperson, sondern um einen gewerbliches Unternehmen handelt?

Es scheint, dass gewerbliche Vermieter häufiger zur Zwangsräumung greifen als private Vermieter. Das Vorgehen ist geradezu algorithmisch: Wer mit der Miete in Verzug gerät, erhält eine Räumungsaufforderung. Um in ihren Wohnungen bleiben zu können, müssen Mieter oft Säumnisgebühren und Gerichtskosten zahlen. Das kann die Wohnausgaben dieser Haushalte um bis zu 20 Prozent in die Höhe treiben.

Eine der Ursachen dafür, dass Mieter mit ihren Mietzahlungen in Verzug geraten, ist eine zunehmende Entkopplung von Wohnungsmarkt und Arbeitsmarkt in den USA. Viele Mieter erhalten heute keine monatlichen Lohnzahlungen. Eine Kellnerin und ein Softwareentwickler, die im selben Gebäude wohnen, verdienen möglicherweise aufs Jahr gerechnet ein ähnliches Gehalt. Allerdings bekommt die Kellnerin Trinkgelder und erhält ihren Lohn alle 14 Tage, während der Softwareentwickler ein monatliches Gehalt bezieht. Der Softwareentwickler kann die monatliche Mietzahlung aufbringen, die Kellnerin jedoch nicht. Sie startet daher den Monat im Mietverzug und schuldet Säumnisgebühren. Das erscheint eindeutig ungerecht – insbesondere, wenn man bedenkt, dass die für Räumungsverfahren zuständigen Gerichte in den USA nicht als letztinstanzliche, sondern als erstinstanzliche Gerichte fungieren.

Sie vertreten den Standpunkt, dass Zwangsräumungen zu Armut führen. Ist es nicht umgekehrt so, dass Armut die Ursache von Zwangsräumungen ist?

Portrait Matthew Desmond

Matthew Desmond ist Inhaber der Maurice P. During-Professur für Soziologie an der Princeton University und Gründer des Eviction Lab.

Menschen, die von Zwangsräumungen betroffen sind, gehören in der Tat zu den ärmsten und gefährdetsten Bevölkerungsgruppen in den USA. Aber die Zwangsräumung macht diesen Menschen das Leben noch viel schwerer. Sie verlieren nicht nur ihr zu Hause. Die Kinder verlieren ihren Schulplatz, den Kontakt zu ihren Lehrern und Vertrauenslehrern. Die Verbindung zur Nachbarschaft und alle dazugehörigen Sozialkontakte reißen ab. Oft verlieren diese Familien auch einen Großteil ihres Besitzes, von Betten über Lebensmittel bis hin zu Medizinprodukten. Ihr Hab und Gut landet mit ihnen zusammen auf der Straße oder wird von einem Umzugsunternehmen abtransportiert. Die Familien müssen dann eine Ablöse zahlen, um ihr eingelagertes Eigentum zurückzubekommen, und das können sich viele schlicht nicht leisten. Folglich müssen sie wieder bei null anfangen.

Eine Zwangsräumung ist zudem ein Rechtsverfahren, das in den Gerichtsakten nachgehalten wird. Das kann es einer betroffenen Person unmöglich machen, in eine attraktive Nachbarschaft oder ein sicheres Zuhause zu ziehen, da viele Vermieter potenzielle Mieter mit einem solchen Aktenvermerk ablehnen. Es kann Menschen auch daran hindern, eine Sozialwohnung zu bekommen, da staatliche Behörden eine Zwangsräumung bei der Beurteilung von Bewerbern ebenfalls als Negativfaktor werten. Das System in den USA verweigert also genau denjenigen Familien Unterstützung hinsichtlich ihrer Wohnsituation, die sie am dringendsten benötigen. Diese Menschen werden nicht nur in die Obdachlosigkeit, sondern auch in unsichere Stadtteile und Wohnverhältnisse getrieben.

Studien belegen zudem, dass der Verlust einer Arbeitsstelle häufiger die Folge als die Ursache einer Zwangsräumung ist. Unter dem Stress einer Zwangsräumung machen die betroffenen Personen bei der Arbeit leichter Fehler, und diese Fehler können sie ihren Job kosten.

Unter dem Stress einer Zwangsräumung machen Menschen bei der Arbeit leichter Fehler, und diese Fehler können sie ihren Job kosten.

Des Weiteren wirken sich Zwangsräumungen auf die Gesundheit aus, zum Beispiel in Form von Langzeitdepressionen. Und auch die Gesundheit von Kindern ist betroffen. Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft eine Zwangsräumung erleben, kommen mit mehr gesundheitlichen Problemen zur Welt als Kinder, deren Mütter dies nicht mitmachen mussten. Die Auswirkungen können für diese lebenslang sein und sich gegebenenfalls sogar über mehrere Generationen erstrecken. Wenn man all diese Faktoren in Betracht zieht, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass Zwangsräumungen nicht nur eine Folge, sondern auch eine Ursache von Armut sind.

Welche finanziellen und ökonomischen Folgen hat es, wenn Menschen nicht über eine stabile Wohnsituation verfügen?

Die Folgen sind enorm. Die Hälfte aller Krankenhauskosten in den USA wird durch die Top-5-Prozent an Patienten in den Notaufnahmen verursacht. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um obdachlose Menschen mit schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen. Gegenden mit einer höheren Kriminalitätsrate sind häufig auch Gegenden mit erhöhten Zwangsräumungsquoten.

Zwangsräumungen scheinen Risse im sozialen Gefüge zu verursachen, das normalerweise dabei hilft, Sicherheit und Ordnung in einem Stadtteil aufrecht zu erhalten. Kinder müssen Jahr für Jahr die Schule wechseln, was sich wiederum auf ihre Zukunfts- und Verdienstchancen als Erwachsene auswirkt. Zwangsräumungen verursachen für den Staat zudem Kosten für Unterbringung und für einen Hilfsapparat, der eingreift, um sicherzustellen, dass betroffene Familien Zugang zu Essen und zumindest zu einer einfachen Unterkunft haben.

In meinen Augen zahlt die US-amerikanische Gesellschaft vor allem einen unglaublichen moralischen Preis für Zwangsräumungen, aber handfeste finanzielle Folgen gibt es natürlich auch.

Rein finanziell betrachtet würde es zweifellos mehr Sinn machen, früher und weniger drastisch einzuschreiten, um Familien den Verbleib in ihrem zu Hause zu ermöglichen.

Es lohnt sich auch, die Sachlage mit etwas Abstand zu betrachten und sich anzuschauen, um welche Summen es bei Zwangsräumungen geht. Ich höre oft Berichte von Vermietern über Familien, die acht oder neun Monate lang keine Miete gezahlt haben. Die Daten zeigen aber, dass solche Fälle extrem selten sind. Nur circa 2 Prozent aller Zwangsräumungen erfolgen aufgrund von Mietrückständen von mehr als sechs Monaten. Durchschnittlich geht es um Summen von etwa zwei Monatsmieten. Ungefähr ein Drittel der Zwangsräumungen in den USA erfolgen sogar aufgrund von Beträgen, die weniger als einer Monatsmiete entsprechen. Zum Zeitpunkt unserer letzten Analyse betrug die Streitsumme bei zehn Prozent aller Zwangsräumungen im Bundesstaat Virginia weniger als 335 US-Dollar. Meine Studierenden geben wahrscheinlich mehr als das pro Jahr für Lehrbücher aus.

Rein finanziell betrachtet würde es zweifellos mehr Sinn machen, früher und weniger drastisch einzuschreiten, um Familien den Verbleib in ihrem zu Hause zu ermöglichen, als erst die Zwangsräumung anzuberaumen und dann den Einzelfall zu betrachten.

Wie teuer wäre es für die US-Regierung, für stabile Wohnverhältnisse zu sorgen?

Die USA sind das reichste Land der Welt. Die Regierung könnte Obdachlosigkeit und sogar Armut allgemein in der Bevölkerung von heute auf morgen komplett abschaffen, ohne das Staatsdefizit zu erhöhen. Das Geld ist da, aber unsere Wohnungspolitik ist durch und durch scheinheilig.

Unser Staat gibt jedes Jahr 46 Milliarden US-Dollar für direkte Wohnbeihilfe für Bedürftige aus, aber gleichzeitig werden 109 Milliarden jährlich für Steuererleichterungen für Eigenheimbesitzer aufgewendet. Ein Großteil dieser Erleichterungen kommt wohlhabenden Familien mit mindestens sechsstelligem Einkommen zugute. So sieht der Status quo unseres Gesellschaftsvertrags aus. Wir verfügen bereits über sehr effektive Programme, um das Problem zu mildern. Diese werden nur leider bei weitem nicht mit den notwendigen Mitteln ausgestattet.

Die US-Regierung könnte Obdachlosigkeit und sogar Armut allgemein in der Bevölkerung von heute auf morgen komplett abschaffen, ohne das Staatsdefizit zu erhöhen.

Können Sie ein Beispiel für ein Programm nennen, das gut funktioniert, aber unterfinanziert ist?

Es gibt zum Beispiel ein Programm namens „eviction diversion“. Wenn einer Familie eine Zwangsräumung droht, versucht eine neutrale Drittpartei im Rahmen dieses Programms zu vermitteln. In Philadelphia zum Beispiel ist es vor der Einleitung eines Zwangsräumungsverfahrens erforderlich, diese Art von Schlichtungsprozess zu durchlaufen. Wenn der Mieter beispielsweise um 500 US-Dollar im Verzug ist, können sich die Parteien auf einen Rückzahlungsplan einigen. Im besten Fall ergibt sich aus diesen Verfahren eine Lösung, von der alle Beteiligten profitieren: Der Vermieter bekommt sein Geld und der Mieter behält ein Dach über dem Kopf.

Solche Schlichtungsprogramme stellen oft sicher, dass Familien nach der Intervention über Jahre hinweg ihr Zuhause behalten können. Sie sind daher ein wenig invasives, humanes und wirkungsvolles Mittel zur Intervention in der Zwangsräumungskrise.

Gibt es auch marktorientierte Lösungen?

New Jersey hat seine Kommunen per Gesetz dazu verpflichtet, einen fairen Anteil an bezahlbarem Wohnraum zu bauen. Für deutsche Ohren klingt das vielleicht nicht besonders radikal. Das Konzept, dass im Sinne des Gemeinwohls Wohnraum für Menschen mit unterschiedlichen Einkommensverhältnissen im selben Gebäude oder in derselben Nachbarschaft bereitgestellt wird, ist in Deutschland sehr etabliert. In den USA ist die Trennung entlang ethnischer und sozioökonomischer Linien immer noch sehr ausgeprägt.

Die gesetzlichen Vorschriften in New Jersey sehen vor, dass Gemeinden einen fairen Anteil an bezahlbaren Wohnungen bauen müssen. Wenn sie das nicht tun, können die zuständigen Gerichte die Gesetze zur Gebietsaufteilung ändern, um entsprechende Anreize für Bauträger zu schaffen. So wird es Bauunternehmen ermöglicht, Mehrfamilienhäuser zu bauen, in denen ein bestimmter Anteil an Einheiten als bezahlbarer Wohnraum angeboten wird. Für den Bauträger sind Mehrparteienhäuser deutlich ertragreicher als der Bau großer, freistehender Einfamilienhäuser. New Jersey ist es so gelungen, ein erhebliches Volumen an bezahlbarem Wohnraum zu schaffen, ohne dafür auch nur einen Cent an staatlichen Mitteln aufwenden zu müssen.

Dieser Ansatz erfordert den Willen, einer Segregation aktiv entgegenzuwirken. Aber viele Städte und Gemeinden, selbst bekennende liberale Hochburgen, widersetzen sich diesem Ziel.

Besteht ein Zusammenhang zwischen der historischen Praxis des „Redlinings“ in den USA und der heutigen Zwangsräumungskrise?

Redlining war eine von vielen Methoden, mit denen in den USA die afroamerikanische Bevölkerung systematisch aus bestimmten Landstrichen vertrieben wurde. Dahinter verbirgt sich die Praxis der Behörden, keine Garantien für Hypotheken in Bezirken mit vorwiegend afroamerikanischen Bewohnern zu leisten. In der Folge gewährten die Banken afroamerikanischen Familien keine Kredite.

Wenig später folgte das „GI Bill“ – ein Gesetz, das nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet wurde. Seinerzeit war es das umfangreichste Sozialvorsorgeprogramm, das es in den USA je gegeben hatte. Ein Kernelement des Gesetzes waren Kredite für Kriegsveteranen. Zwei Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes machten Hypotheken für Veteranen 40 Prozent des gesamten Immobilienkreditvolumens aus. Das Programm beflügelte die Eigenheimkultur in den USA. Jedoch waren afroamerikanische Veteranen von dieser Förderung ausgeschlossen, da die nationale Gesetzgebung auf lokaler Ebene umgesetzt wurde. Veteranen mussten sich an ihre örtlichen Veteranenbehörde wenden, die in vielen Fällen rassistisch geprägt war, und Kredite von lokalen Banken beantragen, die Redlining betrieben.

In den USA besitzen die meisten weißen Familien ein Eigenheim, die meisten afroamerikanischen Familien hingegen nicht.

Diese historischen Vermächtnisse sind bis heute relevant, denn sie haben dazu geführt, dass in den USA die meisten weißen Familien ein Eigenheim besitzen, die meisten afroamerikanischen Familien hingegen nicht. Solche Ungleichheiten haben sich zum Teil historisch weitervererbt. Viele weiße Familien konnten sich die Anzahlung für ein Eigenheim leisten, weil ihre Eltern wiederum ihre Immobilie als Sicherheit für die Finanzierung einsetzen konnten.

Hier zeigen sich klar die generationsübergreifenden Auswirkungen von Praktiken wie Redlining auf die soziale Kluft zwischen Hauseigentümern und Mietern. Und Mieter sind logischerweise der Mietmarktkrise und der Gefahr von Zwangsräumungen ausgesetzt, während Eigentümer von diesen Krisen unberührt bleiben.

Sehen Sie auch heute noch Formen von Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt?

Arme Familien, und vor allem arme afroamerikanische Familien, haben in den USA nicht viel Auswahl hinsichtlich ihres Wohnortes. Ihnen wurde aus historischen Gründen der Zugang zum Hypothekenmarkt verwehrt und sie erleben im Bankensektor bis heute moderne Ausprägungen von Diskriminierung. Sie werden vom Kreditmarkt ausgeschlossen, auch wenn sie hinsichtlich Bonität und Einkommen die Anforderungen für eine Hypothek erfüllen. Von Zugang zu Sozialwohnungen und bezuschusstem Wohnraum werden sie ausgeschlossen, weil nicht genug für alle da ist. Und der Zugang zu wohlhabenderen Wohnbezirken wird ihnen verwehrt, weil die entsprechenden Bezirke bezahlbaren Wohnraum aus ihrem Einzugsbereich verbannt haben, oder weil sie im Wohnungsmarkt diskriminiert werden.

In armen Wohngegenden verdienen Vermieter doppelt so viel wie in Gegenden, deren Bewohner vorwiegend der Mittelschicht angehören.

Folglich bleibt diesen Familien nur übrig, in armen Randbezirken zu wohnen. Und Menschen, die keine Wahl haben, werden eher ausgebeutet. Sie bezahlen mehr, als angemessen wäre. Das ist nicht bloß reine Theorie. Wir haben Analysen durchgeführt und festgestellt, dass Vermieter in armen Wohngegenden doppelt so viel verdienen wie in Gegenden, deren Bewohner vorwiegend der Mittelschicht angehören. Das liegt daran, dass in armen Gegenden andere Ausgaben deutlich niedriger sind. Die Steuerlast und die Hypothekenlast sind geringer, aber die Mieten nicht. Hier sehen wir klare Anzeichen für überhöhte Preise, oder anders ausgedrückt: Ausbeutung.

Wie hat sich die Marktlandschaft aus Vermietersicht entwickelt?

Vermietung wurde in den USA traditionell nie als Hauptberuf angesehen worden, sondern stets als als passive Nebeneinkommensquelle. Für Menschen in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung war der Arbeitsmarkt in den USA in den letzten 40 Jahren von großer Unsicherheit, starken Schwankungen und schlecht entlohnten Jobs geprägt. Erwerbstätige ohne Hochschulabschluss haben es im heutigen US-Arbeitsmarkt besonders schwer. Viele Menschen, auch Hochschulabsolventen, sind heute nicht mehr an konventionellen Jobs interessiert. Wenn sie ein wenig Geld haben, fangen sie an, in Immobilien zu investieren und machen das Vermieten zu Ihrem Vollzeitjob. Das führt dazu, dass mehr Vermieter versuchen, maximalen Ertrag aus ihren Immobilienanlagen herauszupressen.

Zwischen dem stagnierenden Arbeitsmarkt und der Inflation im Wohnungsmarkt sehe ich daher eine Verbindung, die über die Entkopplung steigender Kosten von stagnierenden Gehältern hinausgeht. Sie hängt damit zusammen, dass viele Menschen sich gezwungen sehen, auf Vermietung als Haupteinkommenserwerb und Altersvorsorge zu setzen. Das geschieht heute viel mehr als Mitte des 20. Jahrhunderts, da der Arbeitsmarkt damals den Arbeitern erheblich mehr zu bieten hatte.

Was können Europa und insbesondere Deutschland aus den Erfahrungen in den USA lernen?

Timing ist das A und O. Es ist wichtig, frühzeitig viele Wohnungsbaumaßnahmen anzustoßen und sich zu überlegen, welche Art von Wohnraum geschaffen werden soll. Selbst wenn beide Seiten – Kommunen und Bauträger – sich auf Bauvorhaben einigen, dauert es noch zehn bis 15 Jahre, bis sich deren sozialer Nutzen tatsächlich entfaltet.

Ich denke zudem, dass in den USA zu wenig kritisch hinterfragt wird, was die Wohnraumkrise antreibt. Es wird zum Beispiel oft angeführt, dass die Kosten durch den Mangel an verfügbarem Wohnraum in die Höhe getrieben werden. Dieses Argument hat durchaus seine Berechtigung. Aber dann gibt es auch Fälle wie Syracuse, Baltimore und Cleveland, Städte mit zweistelligen Leerstandsraten, in denen die Mietpreise trotzdem enorm angestiegen sind. Wir müssen uns systematisch an die Daten halten, anstatt gängige Weisheiten zur Wohnraumkrise unhinterfragt als Fakten auszugeben.

Wir müssen uns systematisch an die Daten halten, anstatt gängige Weisheiten zur Wohnraumkrise unhinterfragt als Fakten auszugeben.

Eine der Errungenschaften des „Eviction Lab“ der Princeton University ist, dass es Transparenz geschaffen hat. Die US-Regierung erhebt keine Daten zu Zwangsräumungen. Das ist so, als würden wir nicht nachhalten, wie viele Jugendliche die Schule abbrechen. Es handelt sich hier um ein enormes gesellschaftliches Problem, zu dem wir zuvor schlicht keine Informationen hatten. Durch das Zusammentragen und Veröffentlichen hunderter Millionen von Zwangsräumungsakten haben wir dieses Problem in den USA stärker ins Blickfeld gerückt.

Wie würde eine optimale Wohnpolitik aussehen?

Ich habe große Symphatie für die Art und Weise, wie umfassend Deutschland in den sozialen Wohnungsbau investiert hat. Davon können die USA noch lernen. Manche Länder haben das Recht auf Wohnraum sogar in ihrer Verfassung verankert. Das Recht auf Wohnraum ist wichtig, ebenso wie die Anerkennung der Tatsache, dass Menschen sich ohne eine sichere Unterkunft nicht frei entfalten können. Dieses Recht muss finanziell untermauert werden.

Es gab Zeiten, in denen wir das in den USA getan haben. Zeiten, in denen das Ministerium für Wohnungswesen und Stadtentwicklung (Department of Housing and Urban Development) nach dem Verteidigungsministerium das größte Budget hatte. Aber unter Präsident Reagan wurde das Budget des HUD um fast 70 Prozent gekürzt. Von diesem Rückschlag hat es sich nie wirklich erholt. Wir sollten also auch auf unsere eigene Vergangenheit zurückblicken.

Menschen können sich ohne eine sichere Unterkunft nicht frei entfalten.

In den USA herrscht heute eine ausgeprägte Eigenheimkultur. Es gibt keinen Grund, weshalb wir nicht auch Familien mit geringerem Einkommen Chancen zum Erwerb eines Eigenheims eröffnen können. Etwa 27 Prozent aller Wohneinheiten, die im vergangenen Jahr in den USA den Besitzer gewechselt haben, wurden für weniger als einhunderttausend Dollar verkauft. Aber nur 23 Prozent wurden per Kredit finanziert. Der Großteil wurde von Spekulanten bar gekauft und dann in Mietobjekte umgewandelt. Für die Banken besteht wenig Anreiz, sich einzumischen, da ein kleiner und ein großer Kredit gleich viel Aufwand in der Vergabe bedeuten, aber der große Kredit für sie deutlich ertragreicher ist. Die Regierung könnte hier korrigierend einschreiten.

Ohne eine Stabilisierung des Wohnungsmarktes lässt sich Armut nicht nachhaltig bekämpfen.

Wie wichtig ist die Stabilisierung des Wohnungsmarktes?

Wenn wir die Wohnraumkrise nicht angehen, dann werden wir unter dem Strich keinen wirklichen Fortschritt erzielen, selbst wenn wir alle anderen Probleme beheben, mit denen sich Familien mit geringem Einkommen konfrontiert sehen. Das sieht man zum Beispiel, wenn Bundesstaaten oder einzelne Städte ihren Mindestlohn anheben. Solche Erhöhungen helfen ein bisschen, aber letztlich nutzen Vermieter dies als Gelegenheit, um Mieten zu erhöhen und steigende Kosten wieder reinzuholen. In den USA gehen Mietinflation und Lohninflation heute Hand in Hand. Die Mieter müssen sich abstrampeln, um schlicht den Status quo zu erhalten. Ohne eine Stabilisierung des Wohnungsmarkts lässt sich Armut nicht nachhaltig bekämpfen.

In Ihrer Forschungsarbeit legen Sie einen starken Schwerpunkt auf Geschichten und Ethnografie. Was können Geschichten uns besser vermitteln als Zahlen?

Ich wollte das Problem aus der größtmöglichen Nähe betrachten und bin davon überzeugt, dass es enorm wirkungsvoll sein kann, Zeit und Mühe zu investieren, um persönliche Geschichten zu erzählen. Damit kann man die Leser*innen auf ganz andere Art und Weise ansprechen und bewegen als mit reinen Argumenten und Statistiken. Für mich geht es bei meiner Arbeit um das intime Zusammenspiel zwischen Zahlen und Geschichten.

Ich habe die Zwangsräumung der Unterkunft einer Familie miterlebt, während ich in einem Wohnmobil-Park lebte. Ihre Namen wurden im Zwangsräumungsregister vermerkt. Ich habe sie nach ihrem persönlichen Erlebnis der Zwangsräumung gefragt. Die Mutter antwortete, dass es nicht zu einer Zwangsräumung gekommen sei. Für sie war es erst eine Zwangsräumung, wenn der Sheriff kommt und den Mieter aus der Wohnung wirft. Aber es handelte sich definitiv um eine Zwangsräumung, da die Familie durch den Vermieter zum Verlassen ihrer Unterkunft gezwungen wurde.

Es war mein Ziel, eine enorme Datenmenge zu diesem Thema zusammenzutragen. Aber dabei wusste ich nicht einmal genau, wie ich Menschen am besten dazu befrage, ob sie eine Zwangsräumung erlebt haben. Sich wirklich eng mit dem Problem vertraut zu machen ist in meinen Augen unglaublich wichtig. In der Folge haben wir dann einen anderen Ansatz gewählt und den Menschen jede Menge Fragen gestellt, anstatt nur nach einer Zwangsräumung zu fragen. Wir fragten zum Beispiel: „Hat der Vermieter Ihnen gekündigt?“, „Was haben Sie als nächstes getan?“ und „Ging die Angelegenheit vor Gericht?“. Viele der in unseren Umfragen und unserer Big-Data-Arbeit verwendeten Fragen basierten auf Notizen und Berichten, die ich im Rahmen meiner Feldforschung verfasst hatte.

Es geht darum, Dinge in der Realität zu beobachten und zu erleben und dann auf die Zahlen zu schauen, um zu prüfen, ob sie das Erlebte bestätigen. Wir können viel aus Geschichten lernen und ebenso viel aus Zahlen. Das Zusammenspiel gleicht für mich fast einer Art Tanz.

Zur Person

Matthew Desmond ist Inhaber der Maurice P. During-Professur für Soziologie an der Princeton University, wo er das Eviction Lab, eine Einrichtung zur Erforschung von Zwangsräumungen, gegründet hat. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Armut in den USA, das Leben in Städten, Unsicherheit am Wohnungsmarkt,  Public Policy, Ungleichheiten zwischen ethnischen Gruppen und Ethnografie. Im Jahr 2016 nahm das Magazin POLITICO Professor Desmond in seine Liste der „Fünfzig Personen in den USA mit dem größten Einfluss auf den nationalen politischen Diskurs“ auf.

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20230830.02

Foto: Barron Bixler

Vigeant, Christine (2023): „Zwangsräumungen führen zu Armut“: Der Soziologe Matthew Desmond über die dramatische Situation auf dem amerikanischen Wohnungsmarkt, In: IAB-Forum 30. August 2023, https://www.iab-forum.de/zwangsraeumungen-fuehren-zu-armut-der-soziologe-matthew-desmond-ueber-die-dramatische-situation-auf-dem-amerikanischen-wohnungsmarkt/, Abrufdatum: 27. April 2024