Die Sanktionen in der Grundsicherung sind heftig umstritten. Durch die Neuregelung im Zusammenhang mit der Einführung des Bürgergeldes hat das Thema besondere Aktualität. Im Rahmen der Reihe „Wissenschaft trifft Praxis“ wurden die Sanktionen und deren mögliche Ausgestaltung aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.

Zum 1. Januar 2023 wird das Bürgergeld die Grundsicherung für Arbeitslose ablösen. Im Zuge der Reform werden unter anderem die Berechnung der Regelbedarfe auf eine neue Grundlage gestellt und die Regelsätze für Leistungsberechtigte erhöht. Außerdem werden die berufliche Weiterbildung und Qualifizierung von Arbeitslosen gestärkt. Das Sanktionsmoratorium, durch das zwischenzeitlich Leistungskürzungen bei Pflichtverletzungen ausgesetzt wurden, dauert nicht, wie ursprünglich geplant, noch bis Mitte 2023, sondern endet mit der Einführung des Bürgergeldes. Stattdessen gelten neue Regelungen.

Bei der Veranstaltung „Sanktionen im SGB II – wie können sinnvolle Regelungen aussehen?“ wurden die Sanktionen aus Sicht der Praxis, der Politik, der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände, eines Wohlfahrtsverbands und der Wissenschaft beleuchtet. Der Workshop fand am 14. Oktober dieses Jahres auf Einladung des IAB virtuell statt und wurde zudem live auf dem YouTube-Kanal des IAB gestreamt (dort finden Sie auch ein Video der Veranstaltung).

Prof. Bernd Fitzenberger, Direktor des IAB, wies zu Beginn auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von November 2019 hin. Dieses hat festgestellt, dass eine Minderung von Leistungen der Grundsicherung allenfalls 30 Prozent des Regelbedarfs betragen darf. Die Minderung der Unterstützung für Heizungs- und Unterkunftsleistungen ist nicht zulässig. Die Kürzung von 30 Prozent unterschreitet das Existenzminimum, ist aber unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt.

Joachim Wolff

Dr. Joachim Wolff ist Forschungsbereichsleiter im Bereich “Grundsicherung und Aktivierung” am IAB.

Wolff: „Es ist gut, dass weiterhin die Möglichkeit besteht, Pflichtverletzungen zu sanktionieren, auch wenn wir das in Zukunft Leistungsminderung nennen werden.“

„Es wird schwieriger, die Leistungsberechtigten an den Tisch zu bekommen“, sagte Joachim Wolff, Leiter des Forschungsbereichs „Grundsicherung und Aktivierung“ am IAB, mit Blick auf die von den Koalitionsparteien angestrebten Regelungen. Selbiges befürchteten zumindest Integrationsfachkräfte in Jobcentern der Bundesagentur für Arbeit, die für eine IAB-Studie befragt wurden. Im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gesetzlich geregelte Pflichten sollten die Eingliederung von Leistungsberechtigten voranbringen, also die Wahrnehmung von Terminen im Jobcenter, die Teilnahme an Maßnahmen und die Einhaltung der in der Eingliederungsvereinbarung geregelten Verpflichtungen fördern. Sofern Personen, die Arbeitslosengeld II beziehen, diesen Aufgaben nicht ohnehin nachkommen, sollten Sanktionen sie zur Mitwirkung bewegen.

Durch die neue Ausgestaltung des Kooperationsplans, der künftig die Eingliederungsvereinbarung ersetzen wird, sollen Defizite, die im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen erkannt wurden, behoben werden. Der Kooperationsplan soll die zwischen der Integrationsfachkraft und der leistungsberechtigten Person gemeinsam und auf Augenhöhe entwickelten Integrationsstrategie in einer leicht verständlichen Sprache dokumentieren. Wenn dies gut gelinge, könne das dazu beitragen, dass Pflichtverletzungen seltener auftreten, sagte Wolff: „Es ist gut, dass weiterhin die Möglichkeit besteht, Pflichtverletzungen zu sanktionieren, auch wenn wir das in Zukunft Leistungsminderung nennen werden.“

Klaus Bermig

Dr. Klaus Bermig ist Unterabteilungsleiter „Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende” im Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

Bermig: „Wir sollten versuchen, den Sprachgebrauch im SGB II ein Stück weit zu zivilisieren.“

Dr. Klaus Bermig ist Unterabteilungsleiter „Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende” im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Er plädiert dafür, sich vom Begriff „Sanktion“ zu lösen. „Es geht nicht um Bestrafung, sondern um Mitwirkungspflichten und Rechtsfolgen. Stattdessen sollte von Leistungsminderungen gesprochen werden“, betonte Bermig. Dabei handele es sich nicht um die reine Änderung von Begrifflichkeiten, sondern es gehe um „mehr Miteinander, mehr Vertrauen und mehr Augenhöhe“.

Dies umfasse auch die Rechtsfolgen, die greifen würden, wenn das Vertrauen nicht entgegengebracht würde, so Bermig: „Kooperation ist nur möglich, wenn Leistungsberechtigte auch kommen, wenn das Jobcenter sie einbestellt.“ Weiterhin bedürfe es ausreichender finanzieller Ressourcen: „Wir brauchen auskömmlich ausgestattete Eingliederungsmittel und Verwaltungsmittel, um in den Jobcentern erfolgreich arbeiten zu können“, erläuterte Bermig.

Evelyn Räder

Evelyn Räder ist Abteilungsleiterin „Arbeitsmarktpolitik” beim Deutschen Gewerkschaftsbund.

Räder: „Wir sehen gerade in der Krise, dass die Regelsätze auf Kante genäht sind und im besten Falle das Existenzminimum gerade noch sicherstellen.“

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) tritt dafür ein, das Existenzminimum in jedem Fall zu gewährleisten. Gegenüber Sanktionen und Kürzungen vertritt Evelyn Räder, Abteilungsleiterin „Arbeitsmarktpolitik” beim DGB, eine kritische Haltung. Es bestünden erhebliche Zweifel daran, dass Sanktionen einen positiven Beitrag zur Arbeitsmarktintegration leisten würden: „Das Zerrbild des passiven Arbeitslosen, der nur mittels Sanktionsandrohung motiviert werden kann – das trifft so nicht zu“, machte Räder deutlich. „Der überwiegende Teil aller Leistungsberechtigten hat eine ganz klare, starke Erwerbsorientierung.“

Die Regelsätze seien so gestaltet, dass sie gerade in Krisenzeiten lediglich das Nötigste abdeckten. Räder betonte aber auch, dass der DGB anerkenne, „dass im deutschen Sozialstaat das Prinzip der Gegenseitigkeit strukturprägend“ sei.

Anna Robra

Dr. Anna Robra ist Abteilungsleiterin „Arbeitsmarkt“ bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Foto: BDA | Michael Hübner

Robra: „Einige Menschen haben die Zeit der Sanktionsfreiheit genutzt, um sich den Integrations- und Vermittlungsbemühungen zu entziehen.“

Dr. Anna Robra pflichtete Räder bei: „Im Sozialstaat sollten all diejenigen unterstützt werden, die Hilfe der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen benötigen“, erklärte die Abteilungsleiterin „Arbeitsmarkt“ bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Es sei ihre Pflicht, daran mitzuwirken, aus dem Leistungsbezug herauszukommen.

Bei den Sanktionen gingen die Positionen von BDA und DGB jedoch auseinander: Die BDA sehe Sanktionen als notwendiges Instrument, um fehlende Mitwirkung durchzusetzen, sagte Robra. Das sei gerade denen gegenüber, die an Maßnahmen mitwirken, angemessen und gerecht. Zu dem Sanktionsmoratorium, das im Moment bestünde, gebe es noch keine umfassenden wissenschaftlichen Erkenntnisse. Es sei aber auch klar, so Robra weiter, dass „97 Prozent der Leistungsbeziehenden mitgewirkt haben und keine Sanktionen verhängt wurden“.

Birgit Fix

Dr. Birgit Fix ist Referatsleiterin „Kontaktstelle Politik“ beim Caritasverband.

Fix: „Durch das neue Bürgergeld werden auch Probleme angegangen, die Leistungsberechtigte als problematisch empfunden haben.“

Der Deutsche Caritasverband freue sich über die Sozialreform, die vom BMAS vorgelegt wurde, sagte Dr. Birgit Fix. Mit dem Kooperationsplan würden Probleme angegangen, bei denen es in der Vergangenheit gehakt habe, erläuterte die Referatsleiterin „Kontaktstelle Politik“ beim Caritasverband. Die Kommunikation sei durch ein Ungleichgewicht geprägt gewesen, das zu Konflikten geführt habe. Als Resultat solcher Konflikte sei es wiederum zu Leistungsminderungen gekommen.

An diesem Kernpunkt setze der Plan an, erläuterte Fix: Der Eingliederungsprozess werde durch den Kooperationsplan ergänzt, es gebe Unterstützungsmöglichkeiten durch Coaching-Maßnahmen. Der Fokus läge dadurch nicht länger auf der schnellen Vermittlung, sondern auf der nachhaltigeren Arbeitsmarktintegration. „Kern des neuen Gesetzes ist die Kooperation“, betonte Fix.

Carolin Hufnagl

Carolin Hufnagl ist erste stellvertretende Geschäftsführerin des Jobcenters in München. Foto: © Martin Hangen

Carolin Hufnagl: „Unser gesamtheitliches Handeln im Vermittlungsprozess ist nicht auf Minderungen ausgerichtet.“

Ziel der Arbeitsmarktintegration sei es, Kunden und Kundinnen dabei zu helfen, in Beschäftigung zu kommen, sagte Carolin Hufnagl, erste stellvertretende Geschäftsführerin des Jobcenters München. „Eine zu weit gehende Minderung ist für den Integrationsprozess eher hinderlich als förderlich“, machte sie deutlich.

Eine gewisse Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit sei erforderlich. Der Anteil der Kundschaft, die in Sachen Mitwirkung klare Vorgaben benötige, sei zwar sehr gering. Trotzdem müsse sichergestellt werden können, dass eben diese Verbindlichkeit hergestellt werden kann. „Abbrüche sind schlecht für alle – für uns im Jobcenter, aber natürlich auch für die betreffende Person selber“, merkte Hufnagl an. Im Jobcenter würde immer nach einer Lösung gesucht, die keinen Abbruch von Maßnahmen nach sich ziehe.

Hufnagl befürwortet zudem, ähnlich wie Bermig, anstelle von Sanktionen von Minderungen zu sprechen.

doi: 10.48720/IAB.FOO.20221213.02

Kaltwasser, Lena (2022): Wissenschaft trifft Praxis: Sanktionen im SGB II – wie können sinnvolle Regelungen aussehen? , In: IAB-Forum 13. Dezember 2022, https://www.iab-forum.de/wissenschaft-trifft-praxis-sanktionen-im-sgb-ii-wie-koennen-sinnvolle-regelungen-aussehen/, Abrufdatum: 17. April 2024