Wie lässt sich die Digitalisierung so gestalten, dass Frauen und Männer gleiche Verwirklichungschancen haben? Konkrete Antworten auf diese Frage zu geben – das war der Auftrag der Politik an eine unabhängige Sachverständigenkommission. Diese hat ihre Erkenntnisse und Empfehlungen in einem Gutachten für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung zusammengetragen. Im Interview für das IAB-Forum macht Aysel Yollu-Tok, Vorsitzende der Kommission, deutlich: Die Digitalisierung führt nicht automatisch zu mehr Geschlechtergerechtigkeit. Wohl aber bietet sie Chancen, dieses Ziel schneller zu erreichen.

Aysel Yollu-Tok

Prof. Aysel Yollu-Tok ist Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Sozial- und Wirtschaftspolitik, und Direktorin des Harriet-Taylor-Mill‐Instituts für Ökonomie und Geschlechterforschung an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

Warum sollten wir bei der Digitalisierung die Frage der Geschlechtergerechtigkeit besonders in den Blick nehmen?

Unsere Gesellschaft im Allgemeinen, insbesondere der Arbeitsmarkt, ist durch Geschlechterverhältnisse geprägt. Digitalisierung trifft also auf die vergeschlechtlichte Gesellschaft und damit auch auf den vergeschlechtlichten Arbeitsmarkt. Das ist gleichermaßen für die horizontale und die vertikale Geschlechtersegregation des Arbeitsmarktes der Fall. Wenn wir die horizontale Segregation betrachten, gibt es viele Berufe oder Tätigkeiten, die durch digitale Technologien substituiert werden können, und bei denen entweder Frauen oder Männer stark in der Überzahl sind.

Für welche Berufe trifft das zum Beispiel zu?

Etwa wenn Selbstbedienungskassen im Supermarkt die Arbeit der meist weiblichen Angestellten verändern oder wenn automatisierte Prozesse in der Fertigung Tätigkeiten ersetzen, die bislang überwiegend von Männern ausgeübt werden.

Und welche Auswirkungen der Digitalisierung sehen Sie mit Blick auf die vertikale Geschlechtersegregation?

Hier sind die Auswirkungen nicht ganz so offensichtlich. Der Arbeitsmarkt ist ja hierarchisch strukturiert – zu Ungunsten von Frauen. Mit Blick auf die Digitalisierung denke ich beispielsweise an Kompetenzvermittlung und Arbeitsplatzbewertung und die Frage, wer Zugang zu digitalisierungsbezogenen Kompetenzen hat. Wenn Unternehmen ihren meist männlichen Führungskräften Fortbildungen anbieten, die meist weiblichen Angestellten in der Bürokommunikation dies aber im Job durch Ausprobieren erlernen müssen, bestehen Ungleichheiten nicht nur fort, sondern werden verstärkt. Vor allem auch dann, wenn die erworbenen Kompetenzen unterschiedlich bewertet und entsprechend unterschiedlich honoriert werden. Es ist wichtig, genau hinzusehen und diese Zusammenhänge aufzuzeigen.

Verschärft also die Digitalisierung die Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt?

Klar ist, von alleine wird es keine „automatische Gleichstellung“ im Zuge der Digitalisierung geben, sie ist aber ein Gelegenheitsfenster für eine geschlechtergerechte Gesellschaft. Wir sehen nämlich, dass durch die Digitalisierungsprozesse ohnehin sehr viel in Bewegung ist. Dies ist eine Chance, um gesellschaftliche und betriebliche Rahmenbedingungen zu gestalten und hin zu mehr Gleichstellung zu verbessern.

Wo können Gleichstellungsakteurinnen ansetzen?

Digitalisierung ist ein andauender Prozess, der generell den Erwerb neuer Kompetenzen und gegebenenfalls auch Tätigkeits- oder Berufswechsel über den gesamten Verlauf des Erwerbslebens wahrscheinlicher macht. Es wird daher darum gehen, gezielt zu analysieren, welche Kompetenzanforderungen unterschiedliche Berufsgruppen gemeinsam haben und diese in den Vordergrund zu rücken – und zwar insbesondere auch bei Berufen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben, also zum Beispiel typischen „Männer-“ und „Frauenberufen“.

Warum ist das wichtig?

Es geht darum, auf diese Weise Übergangspfade zu gestalten. Das ist eine wichtige Aufgabe, die unabhängig von geschlechterstereotypen Zuschreibungen geschehen muss. Also beispielsweise unabhängig etwa von der Vorstellung, dass Männer technisch begabter seien als Frauen. Hier sind öffentliche und private Weiterbildungsträger, aber auch die betriebliche Weiterbildung gefragt.

Und welche Rolle kommt hier den betrieblichen Gleichstellungsakteurinnen zu?

Die sollten zum Beispiel mit Blick auf das eben genannte Beispiel der betrieblichen Fortbildungsangebote darauf achten, dass allen Beschäftigen passende Angebote gemacht werden und dass im Rahmen der Arbeitsbewertung auch informell erworbene digitale Kompetenzen berücksichtigt werden.

Auch informell erworbene digitale Kompetenzen müssen im Rahmen der Arbeitsbewertung berücksichtigt werden.

Als eine weitere gleichstellungspolitische Herausforderung haben Sie das Thema „Mobile Arbeit“ identifiziert. Warum?

Ja, denn hier zeigt sich besonders deutlich: Die Digitalisierung ermöglicht zwar orts- und zeitflexibles Arbeiten und schafft damit neue Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit. Dies führt aber nicht automatisch zu einer gerechteren Verteilung dieser Arbeiten. Für unser Gutachten wurde berechnet, wie es sich auf die Verteilung der Sorgearbeit auswirkt, wenn weibliche und männliche Beschäftigte ins Homeoffice wechseln.

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Im Mittel weiten sowohl Frauen als auch Männer in Paarhaushalten, die im Homeoffice arbeiten, ihre informelle Sorgearbeit aus. Der Effekt ist aber – gemessen in absoluten Stunden – bei Frauen größer: Frauen, die beginnen, von zu Hause aus zu arbeiten, dehnen ihre Haushaltstätigkeiten im Schnitt um etwa 1,7 Stunden, Männer um circa 0,6 Stunden pro Woche aus. Homeoffice vergrößert also noch einmal den Anteil an Sorgearbeit, den Frauen in einer heterosexuellen Paarbeziehung übernehmen. Gleichstellungsakteurinnen sollten sich für flankierende gesetzliche Regelungen einsetzen.

Frauen, die ins Homeoffice wechseln, leisten im Schnitt 1,7 Stunden mehr Sorgearbeit pro Woche, Männer nur 0,6 Stunden.

Wie könnten solche Regelungen aussehen?

Solche Regelungen umfassen zum Beispiel die Sicherung der Freiwilligkeit von mobiler Arbeit, die Bereitstellung einer ausreichenden Ausstattung des Arbeitsplatzes oder die Gewährleistung von Arbeits- und Gesundheitsschutz. Die Regelungen müssen so gestaltet werden, dass mobile Arbeit tatsächlich zu besserer Vereinbarkeit führt und zu einer gerechten Aufteilung von Sorgearbeit.

Sie haben sich in Ihrem Gutachten auch intensiv mit den geschlechtsspezifischen Auswirkungen algorithmischer Systeme befasst. Können Sie das erläutern?

Von Computern beziehungsweise algorithmischen Systemen errechnete Prognosen werden inzwischen in Bereichen genutzt, in denen Entscheidungen fallen, die sich direkt auf das Leben von Menschen auswirken: Personalauswahl, Kreditvergabe oder Gesundheitsleistungen sind nur einige Beispiele. Algorithmische Systeme können erhebliche Diskriminierungsrisiken beinhalten und Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Behinderungen, ihres Bildungsgrads, ihrer sozialen Position oder ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen benachteiligen.

Welche Rolle kommt hier den Gleichstellungsakteurinnen zu?

Diese sollten in ihren Institutionen auf diese potenziellen Diskriminierungsrisiken hinweisen und eine Prüfung fordern. Denn für die Anwendenden selbst ist aufgrund der Vielzahl der Daten und der Komplexität dieser Systeme oft schwer nachvollziehbar, ob und wie algorithmische Systeme ihre Empfehlungen generieren. Die Gleichstellungsakteurinnen müssten sich die Gründe für Diskriminierung durch Algorithmen vergegenwärtigen, denn diese sind vielfältig. Eine Rolle spielen etwa Verzerrungen durch Datensets und problematische Klassifizierungen.

In Ihrem Gutachten erwähnen Sie in diesem Zusammenhang das Beispiel der afro-amerikanischen Informatikerin Joy Buolamwini. Bitte erzählen Sie!

Die schwarze Informatikerin Joy Buolamwini hat in einem Selbstexperiment festgestellt, dass ihr Gesicht von gängigen Gesichtserkennungssystemen nur erkannt wurde, wenn sie eine weiße Maske verwendete. Der Grund: Die Software wurde mithilfe von Daten programmiert, die vor allem weiße Männer abbilden. Wenn Hautfarbe oder Geschlecht nicht ausgewogen in ein solches Datenset eingespeist werden, erkennt das System die nicht oder weniger repräsentierten Gruppen schlechter beziehungsweise zieht falsche Schlüsse.

Es fehlt die Diversität in Software-Entwicklungsteams.

Welche Lehren sollten wir daraus ziehen?

Solche potenziellen Diskriminierungsrisiken gehören zwingend in die Ausbildungsmodule jeglicher IT-Studiengänge, ob sie sich nun speziell mit „Künstlicher Intelligenz“ beschäftigen oder andere Gebiete der Informatik vertiefen. Vor allem aber fehlt die Diversität in Software-Entwicklungsteams. Ausbildungen und Studium für Digitalberufe sind, ebenso wie die Digitalbranche, durch den geringen Anteil von Frauen und fehlende Diversität gekennzeichnet. Dies befördert eine einseitige Technikgestaltung, denn Entwicklerinnen und Entwickler orientieren sich vor allem an ihren eigenen Werten und Erfahrungen. Madeleine Akrich hat dafür den Begriff der Ich-Methodologie geprägt. Hier brauchen wir dringend mehr Vielfalt. Die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer muss ebenfalls einbezogen werden.

 

Literatur

Sachverständigenkommission für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (2021): Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten. Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung.

 

doi: 10.48720/IAB.FOO.20220609.01

 

Wagner, Petra (2022): „Wir sollten die Digitalisierung als Gelegenheitsfenster für eine geschlechtergerechte Gesellschaft nutzen!“, In: IAB-Forum 9. Juni 2022, https://www.iab-forum.de/wir-sollten-die-digitalisierung-als-gelegenheitsfenster-fuer-eine-geschlechtergerechte-gesellschaft-nutzen/, Abrufdatum: 20. April 2024