Zehn Wochen lang fand an deutschen Schulen infolge der Covid-19-Pandemie kein Präsenzunterricht statt.  Zwar haben in dieser Zeit viele Lehrkräfte auf Möglichkeiten des Online-Lernens zurückgegriffen, um ihren Schülerinnen und Schülern Wissen zu vermitteln. Dennoch ist zu befürchten, dass es zu erheblichen Lernrückständen gekommen ist. Bringen die Schulschließungen also langfristig Nachteile für die Bildungskarrieren und Arbeitsmarktchancen der Jugendlichen? Darüber diskutierten Forschende gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Politik und Praxis bei der Konferenz „Wissenschaft trifft Praxis“.

Es war eine Premiere: Zum ersten Mal fand die Konferenz „Wissenschaft trifft Praxis“ im virtuellen Raum statt. Geschuldet war dies den vielfachen Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie. Das war allerdings nicht die einzige Neuerung, auf die IAB-Vizedirektor Professor Ulrich Walwei in seinem Eröffnungsvortrag zu sprechen kam. Anstelle einer großen zweitägigen Konferenz wie in den vergangenen elf Jahren veranstaltet das IAB in diesem Jahr mehrere kürzere Online-Konferenzen zu verschiedenen Themen. „Somit haben wir die Möglichkeit, Ihnen auch kurzfristig zu aktuellen Themen die Forschungsergebnisse des IAB vorzustellen und mit Ihnen zu diskutieren“, erläuterte Ulrich Walwei der Zuhörerschaft, die via virtuellem Konferenztool zugeschaltet war.

Ein solch aktuelles und auch in der Öffentlichkeit vieldiskutiertes Thema sind die langfristigen Folgen der coronabedingten Schulschließungen für Schülerinnen und Schüler. Die Sorge gilt insbesondere den Abschlussklassen. Unter welchen Bedingungen fanden die Prüfungsvorbereitungen statt? Führen die Schulschließungen zu schlechteren Leistungen in den Abschlussprüfungen? Kommt es dadurch auf lange Sicht auch zu Benachteiligungen beim Zugang zu Ausbildung oder Studium und dem Übergang in den Arbeitsmarkt? Wie kann effektives Lernen „auf Distanz“ gefördert werden? Und wie können politische Entscheidungsträger den Unsicherheiten und Sorgen der Jugendlichen begegnen? Über diese und weitere Fragen diskutierten Expertinnen und Experten aus Forschung, Politik und Praxis am 18. Juni bei der ersten Online-Konferenz „Wissenschaft trifft Praxis“ in diesem Jahr.

Schülerinnen und Schüler wurden zur Lernsituation an gymnasialen Oberstufen während der Schulschließungen befragt

Portraitfoto Prof. Dr. Silke Anger

IAB-Forscherin Prof. Dr. Silke Anger

Zehn Wochen lang waren in ganz Deutschland alle Schulen geschlossen. In den davon betroffenen Monaten März und April dieses Jahres führte das IAB eine Online-Befragung unter mehr als 1.000 Gymnasiastinnen Gymnastiasten der beiden Abschlussjahrgänge in insgesamt acht Bundesländern durch. Silke Anger, Leiterin des Forschungsbereichs „Bildung, Qualifizierung und Erwerbsverläufe“ am IAB und Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Bildungsökonomik, an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, stellte in einem Impulsvortrag einige Auswertungen aus dieser Studie vor. Die ausführlichere Darstellung der Ergebnisse finden Sie im Beitrag „Schulschließungen wegen Corona: Regelmäßiger Kontakt zur Schule kann die schulischen Aktivitäten der Jugendlichen erhöhen“.

Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass ein Großteil der Abiturientinnen und Abiturienten während der Schulschließungen trotz der Bereitstellung von Lehrmaterialien deutlich weniger für die Schule getan hat. Anger nannte dazu einige Zahlen: So hat gut ein Viertel der Befragten an einem Homeschooling-Tag mindestens vier Stunden für die Schule gelernt. Dagegen wendete weitaus mehr als jeder dritte Jugendliche weniger als zwei Stunden pro Tag für schulische Aktivitäten auf, also deutlich weniger als an einem regulären Schultag.

Vor allem Schülerinnen und Schüler mit einem Notendurchschnitt unter 2,5 in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch verbrachten weniger Zeit mit schulischen Aktivitäten: Über 40 Prozent von ihnen verwendeten maximal zwei Stunden am Tag darauf. Bei den Schülerinnen und Schülern mit einem Notendurchschnitt von 2,5 und besser traf dies auf rund 30 Prozent zu.

Anger: „Je häufiger die Schülerinnen und Schüler Kontakt zur Schule haben, desto mehr Zeit investieren sie in schulische Aktivitäten“

Fast 50 Prozent aller Befragten wurden täglich mit Lernmaterial versorgt. Bei den Vorabschlussklassen war dies sogar bei fast 60 Prozent der Fall. Die Lernaufgaben wurden meist über Online-Plattformen ausgetauscht oder per E-Mail verschickt, erläuterte Anger weiter. Deutlich seltener konnten die Befragten hingegen an Online-Kursen oder an virtuellen Unterrichtsstunden teilnehmen.

„Dabei zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler umso mehr für die Schule tun, je häufiger sie Kontakt zur Schule haben“, sagte Silke Anger. Von denjenigen Befragten, die täglich Lehrmaterialien erhielten, verbrachten über 40 Prozent an einem Homeschooling-Tag zwischen zwei und unter vier Stunden mit Lernen, fast 30 Prozent sogar vier und mehr Stunden. Dagegen wendeten 55 Prozent derjenigen Abiturientinnen und Abiturienten, die seltener als einmal wöchentlich Lehrmaterialien bekamen, weniger als zwei Stunden für die Schule auf.

Welche Folgen haben solche mitunter gravierenden Lerneinbußen für den Bildungserfolg und das spätere Erwerbsleben der Schülerinnen und Schüler? Silke Anger verwies in diesem Zusammenhang auf verschiedene Untersuchungen: „Aus den bisherigen empirischen Studien lässt sich ableiten, dass reduziertes Lernen und soziale Isolation zu individuellen Folgekosten und zu gesamtwirtschaftlichen Wohlstandsverlusten führen.“ Eine aktuelle Studie von Ludger Wößmann prognostiziert beispielsweise Einkommensverluste von 3 bis 4 Prozent über den gesamten Erwerbsverlauf sowie einen Rückgang von kognitiven Kompetenzen um 10 Prozent infolge der coronabedingten Schulschließungen.

Kein Wunder also, dass sich viele Schülerinnen und Schüler derzeit Sorgen um die Zukunft machen. Laut IAB-Befragung fürchtet fast die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer um die eigenen schulischen Leistungen und fast 30 Prozent blicken sorgenvoll auf ihre berufliche Zukunft. Am meisten Sorgen machen sich Schülerinnen und diejenigen mit einem schlechteren Notendurchschnitt. „Häufige Kommunikation mit den Lehrkräften und der Berufsberatung kann den Schülerinnen und Schülern der Abschlussjahrgänge helfen, ihre beruflichen Zukunftssorgen zu reduzieren und Berufswünsche zu realisieren“, erklärte Silke Anger. Dazu müssten allerdings zusätzliche schulische wie außerschulische Beratungsangebote geschaffen werden, unterstrich die IAB-Forscherin.

Meidinger: „Meine Sorge gilt den künftigen Abschlussjahrgängen“

Portraitfoto Heinz-Peter Meidinger

Heinz-Peter Meidinger, © Deutscher Lehrerverband

In der anschließenden Diskussion gaben drei Expertinnen und Experten aus Politik und Praxis ihre  Einschätzungen zu den Folgen der Schulschließungen ab. Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Leiter eines bayerischen Gymnasiums, berichtete über die ersten Ergebnisse der diesjährigen Abiturprüfungen. Diese seien nicht schlechter, sondern im Gegenteil teilweise sogar besser als die der letzten Jahre ausgefallen.

Zumindest in diesem Jahr hatten die Schulschließungen also keinen Einfluss auf die Noten in den Abschlussprüfungen. Als einen der Gründe hierfür nannte Meidinger, dass die Aufgabenstellungen angepasst worden sind. Außerdem hätten viele Abiturienten länger Zeit gehabt, sich auf die Prüfungen vorzubereiten, weil diese verschoben wurden. „Meine Sorge gilt vielmehr den künftigen Abschlussjahrgängen“, sagte Meidinger. „Bei ihnen werden sich Lerndefizite und nicht behandelte Stoffgebiete eher auswirken“, vermutete er.

Homeschooling ist vor allem dann ein Problem, wenn Schülerinnen und Schüler von den Eltern keine ausreichende Unterstützung erfahren (können). Das betrifft häufig sozial schwache Haushalte. Diesen Kindern fehlen laut Meidinger häufig nicht nur die erforderliche IT-Ausstattung für das Homeschooling, sondern auch Struktur im Tagesablauf und Unterstützung bei der Bewältigung der schulischen Aufgaben. „Solche Schüler, bei denen es um intensive Förderung geht, erreichen wir eigentlich nur über den Präsenzunterricht“, weiß Meidinger aus der Praxis. „Dafür brauchen wir dringend ein Gesamtprogramm, das auch ins nächste Schuljahr hineinreicht.“

Letztendlich habe die Corona-Krise aber auch eine positive Auswirkung: „Es hat einen großen Innovationsschub an den Schulen gegeben, auch bei den digitalen Kompetenzen der Lehrkräfte“, freute sich Meidinger. An seiner eigenen Schule habe vor ein paar Monaten kaum jemand Lernvideos gedreht. Nun stelle etwa die Hälfte der Lehrkräfte solche Videos selbst her, berichtete der Schulleiter. Dennoch besteht in vielen Schulen noch dringender Nachholbedarf: „Wir müssen die Sommerferien nutzen, um die digitale Ausstattung an den Schulen massiv nachzurüsten“, mahnte der Präsident des Deutschen Lehrerverbands an.

Hoffmann: „Wir verlieren die Gruppe derjenigen, die eine berufliche Ausbildung machen, noch viel stärker als die Abiturienten“

 

Dr. Ilka Hoffmann, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, gab Meidinger recht, dass die nachfolgenden Jahrgänge viel eher benachteiligt seien als der Corona-Abschlussjahrgang.  „Anstatt viel Anstrengungen und logistischen Aufwand in die diesjährigen Abschlussprüfungen zu stecken, hätte man die Energie lieber in die nachfolgenden Jahrgänge investieren sollen“, sagte Hoffmann, die als Lehrerin und Erziehungswissenschaftlerin aus einem reichen Schatz an praktischen Erfahrungen schöpfen kann. Sie weiß daher, dass sich die Noten in den Abschlussprüfungen nur minimal auf den Notendurchschnitt auswirken.

Außerdem dürfe der Fokus nicht nur auf den Abiturientinnen und Abiturienten liegen, so Hoffmann. Mittlere Abschlüsse und Hauptschulabschlüsse seien zu kurz gekommen, kritisierte sie. Dabei seien Schülerinnen und Schüler, die den beruflichen Weg wählen, laut der bereits genannten Studie von Ludger Wößmann besonders abgehängt worden. „Wir verlieren die Gruppe derjenigen, die eine berufliche Ausbildung machen, noch viel stärker als die Abiturienten“, gab Hoffmann zu bedenken.

Stark betroffen seien auch die Grundschülerinnen und -schüler. „Wie es sich auswirkt, wenn Mängel in der Grundausbildung bestehen, werden wir dann in ein paar Jahren sehen“, so Hoffmann. Außerdem würden gerade diejenigen Kinder, die vom Elternhaus nicht unterstützt werden könnten, große Einbußen in ihrer Bildungsbiografie und zum Teil auch in ihrer seelischen Gesundheit erfahren. Auch über die Zunahme an häuslicher Gewalt während des Lockdowns sei öffentlich viel zu wenig gesprochen worden.

Profit: „Jugendliche werden es voraussichtlich deutlich schwerer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden“

Dr. Stefan Profit richtete den Blick auf die gesamtwirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie. „Die Krise, die wir jetzt erleben, ist die tiefgreifendste, die wir in der Bundesrepublik jemals erlebt haben“, fasste Profit, der sich im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung befasst, die dramatischen Auswirkungen der Corona-Krise zusammen.

Von der schlechten Arbeitsmarktlage sind auch Schülerinnen und Schüler betroffen – vor allem, wenn sie dieses Jahr ihren Abschluss machen. „Wir sehen in den bereits vorliegenden Zahlen schon deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler es wesentlich schwerer haben werden, einen Ausbildungsplatz zu finden“, sagte Profit. „Auch die Einstiegslöhne werden im Vergleich zu den letzten Jahrgängen voraussichtlich deutlich sinken.“ Er befürchtet, dass sich diese Einkommensverluste möglicherweise durch das gesamte Erwerbsleben hindurchziehen – mit den entsprechenden Folgen für den individuellen Wohlstand.

Die Bundesregierung habe deshalb konkrete Maßnahmen beschlossen, die auch Schülerinnen und Schülern zugutekommen, erklärte Profit. So sei beispielsweise der „Digitalpakt Schule“ im Zuge der Krise wesentlich erweitert worden. Außerdem sei im Konjunkturprogramm ein Ausbildungsschutzschirm enthalten. Danach erhalten Betriebe eine Prämie, wenn sie weiter ausbilden. Außerdem gebe es Übernahmeprämien für Unternehmen, wenn diese Auszubildende aus insolventen Betrieben einstellen. Profit wies zudem darauf hin, dass auch Studierende, die infolge der Covid-19-Pandemie in eine finanzielle Notlage geraten sind, beispielsweise durch die Überbrückungshilfe unterstützt werden. Sie erhalten Kredite, die sie nicht zurückzahlen müssen.