30. Mai 2025 | Betriebliche Arbeitswelt
Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung: keine Trendwende in Sicht

Seit mehr als 70 Jahren wird das deutsche System der Arbeitsbeziehungen durch drei wesentliche Elemente geprägt: das Tarifvertragsgesetz, die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit als Fundament der Tarifautonomie sowie die gesetzlichen Bestimmungen zur betrieblichen Interessenvertretung durch Betriebs- und Personalräte.
Eine zentrale Rolle spielen dabei überbetriebliche Branchen- oder Flächentarifverträge, die maßgeblich Arbeitsbedingungen und Lohnfindung regulieren. Diese werden typischerweise regional und branchenspezifisch verhandelt und schaffen einheitliche Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der Arbeitskosten. Für Unternehmen bieten sie Planungssicherheit und garantieren während der Vertragslaufzeit Betriebsfrieden mit einem Verbot von Arbeitskampfmaßnahmen. Zudem werden die Betriebe entlastet, da der Verhandlungsprozess nicht bei ihnen, sondern bei den Verbänden liegt.
Die Vereinbarung von Löhnen und Arbeitsbedingungen kann aber auch auf Unternehmensebene durch Firmen- oder Haustarifverträge mit den Gewerkschaften oder in individuellen Arbeitsverträgen erfolgen. Letztere finden vorwiegend in kleineren Betrieben Anwendung. Für größere Unternehmen wäre der administrative Aufwand individueller Vertragsverhandlungen jedoch unverhältnismäßig hoch, weshalb Firmentarifverträge eine effiziente Alternative darstellen.
In der arbeitsrechtlichen Hierarchie stehen Tarifverträge über Betriebsvereinbarungen und individuellen Arbeitsverträgen. Dies bedeutet, dass tarifvertragliche Regelungen für tarifgebundene Firmen grundsätzlich Vorrang haben und Mindeststandards definieren. Sie schaffen somit den Rahmen, innerhalb dessen Betriebsvereinbarungen und individuelle Verträge gestaltet werden können.
Nahezu kontinuierlicher Rückgang der Tarifbindung
Seit 1996 sinkt der Anteil der Beschäftigten, die in branchentarifgebundenen Betrieben arbeiten, kontinuierlich. Das IAB-Betriebspanel erhebt jährlich umfassende Daten zur Tarifbindung und betrieblichen Interessenvertretung in West- und Ostdeutschland, über alle Wirtschaftszweige und Betriebsgrößen hinweg. Seit 1999 werden zusätzlich Informationen zu Betrieben erfasst, die sich freiwillig an einem Branchentarifvertrag orientieren.
Die Erhebung zeigt, dass die Branchentarifbindung sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern kontinuierlich abnimmt. Sie sank zwischen 1996 und 2024 insgesamt von 67 auf 41 Prozent. Diese Entwicklung ist weitestgehend auf den Rückgang der Branchentarifbindung in der Privatwirtschaft von 63 auf 33 Prozent zurückzuführen, denn die Flächentarifbindung im öffentlichen Sektor blieb im betrachteten Zeitraum weitgehend stabil. Aktuell hat sich in Ostdeutschland der Anteil der Beschäftigten, die in branchentarifgebundenen Betrieben arbeiten, allerdings etwas stabilisiert (siehe Abbildung 1).
Ein ähnliches Bild bei Betriebsräten in der Privatwirtschaft
Die betriebliche Mitbestimmung durch Betriebsräte bildet neben der Tarifbindung die zweite Säule des deutschen Systems der Arbeitsbeziehungen. Bei der Betrachtung der betrieblichen Mitbestimmung ist zu berücksichtigen, dass das Betriebsverfassungsgesetz erst ab einer Betriebsgröße von fünf Beschäftigten greift. Bei etwa 37 Prozent der Betriebe ist dies nicht der Fall, da diese Betriebe nach Auswertungen des IAB-Betriebspanels unter der Betriebsgrößenschwelle von fünf Beschäftigten liegen. Dennoch hat ein Großteil der Arbeitnehmer*innen Anspruch auf Gründung eines Betriebsrates, da lediglich etwa 6 Prozent aller Beschäftigten in Kleinbetrieben mit weniger als fünf Mitarbeitern tätig sind.
Die Entwicklung der betrieblichen Mitbestimmung in privatwirtschaftlichen Betrieben mit mindestens fünf Beschäftigten zeigt eine ähnliche, wenn auch weniger ausgeprägte Tendenz wie bei der Tarifbindung: Sie weist im Zeitverlauf einen insgesamt deutlich rückläufigen Trend auf, auch wenn 2024 mit etwa 37 Prozent geringfügig mehr Beschäftigte in Betrieben mit Betriebsrat arbeiteten als im Vorjahr mit 36 Prozent. In Westdeutschland lag der Anteil der Beschäftigten mit etwa 38 Prozent etwas höher als in Ostdeutschland mit 31 Prozent.
Fazit
Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland sind Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung durch Betriebs- und Personalräte seit Jahren tendenziell rückläufig. Dennoch belegen die Daten, dass beide Institutionen nach wie vor eine bedeutende Rolle im deutschen Beschäftigungssystem einnehmen.
Die Bundesregierung beabsichtigt laut Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode, dem schleichenden Bedeutungsverlust von Tarifbindung und betrieblicher Mitbestimmung entgegenzuwirken. Sie plant die Einführung eines Tariftreuegesetzes, um die Tarifbindung zu stärken, sowie die Anpassung der betrieblichen Mitbestimmung an die fortschreitende Digitalisierung, indem sie digitale Formate ermöglicht und entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen fördert. Zugleich soll die Mitgliedschaft in Gewerkschaften steuerlich begünstigt werden.
Der anhaltende Wettbewerb um Fachkräfte wird voraussichtlich die Aufmerksamkeit der Unternehmen für ihre Attraktivität als Arbeitgeber weiter erhöhen. Aus betrieblicher Perspektive könnten Tarifverträge und betriebliche Mitbestimmung dazu beitragen, dass die entsprechenden Unternehmen in diesem Wettbewerb erfolgreicher sind.
Das IAB-Betriebspanel
Das IAB-Betriebspanel ist die einzige repräsentative Datenquelle, die jährlich über alle Wirtschaftszweige und Größenklassen hinweg Ergebnisse zu den Institutionen der Interessenvertretung liefert. Seit 1996 werden dort Informationen zur Tarifbindung und zur betrieblichen Interessenvertretung für Deutschland erhoben, so dass sie Betriebe auch über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgt werden können.
Die aktuellen Ergebnisse beruhen auf Angaben von rund 15.000 Betrieben in Ost- und Westdeutschland. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die rund 2,1 Millionen Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Insgesamt sind in diesen Betrieben knapp 40,6 Millionen Personen beschäftigt. Ausführliche Tabellen mit den Ergebnissen der Auswertungen stehen auf der IAB-Website unter „Aktuelle Daten und Indikatoren“ zur Verfügung.
In aller Kürze
- Die Tarifbindung und die betriebliche Interessenvertretung durch Betriebs- und Personalräte haben in den letzten Jahren kontinuierlich an Reichweite eingebüßt.
- Im Jahr 2024 arbeiteten bundesweit hochgerechnet rund 41 Prozent der Beschäftigten in Betrieben, die an einen Branchentarif gebunden sind, weitere 8 Prozent in Betrieben mit Haustarifvertrag. In Westdeutschland entspricht der Anteil etwa 43 Prozent, in Ostdeutschland etwa 31 Prozent.
- Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der betrieblichen Mitbestimmung: Im Jahr 2024 arbeiteten noch etwa 38 Prozent der westdeutschen und 31 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat (nur privatwirtschaftliche Betriebe mit mindestens fünf Beschäftigten).
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20250530.01
Hohendanner, Christian; Kohaut, Susanne (2025): Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung: keine Trendwende in Sicht, In: IAB-Forum 30. Mai 2025, https://www.iab-forum.de/tarifbindung-und-betriebliche-mitbestimmung-keine-trendwende-in-sicht/, Abrufdatum: 1. June 2025
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Autoren:
- Christian Hohendanner
- Susanne Kohaut