Der Mangel an Bewerberinnen und Bewerbern hat sich in den letzten Jahren immer mehr zum Hemmnis bei der Besetzung von Ausbildungsstellen entwickelt. Während der Corona-Krise hat sich die Lage noch verschärft. Gleichwohl finden viele Jugendliche keinen Zugang in die duale Ausbildung. Wie können junge Leute für eine solche Berufsausbildung gewonnen werden und was können Betriebe, Sozialpartner und Politik jetzt dafür tun? Antworten auf diese Fragen gab eine gemeinsame Veranstaltung des OECD Berlin Centre und des IAB.

Der Rückgang der Bewerberinnen und Bewerber für eine duale Ausbildung setzt sich den Daten der Statistik der Bundesagentur für Arbeit zufolge auch nach der Corona-Krise fort. Stellt sich die Bewerberlage in anderen OECD-Ländern ähnlich dar? Gibt es Länder, die in den vergangenen Jahren die berufliche Ausbildung attraktiver für Auszubildende und Betriebe gemacht haben? Wie könnten Reformbemühungen aussehen, um Jugendliche mit schwächeren Schulabschlüssen fit für die berufliche Bildung zu machen? Darüber diskutierten Expertinnen und Experten am 27. April dieses Jahres auf Einladung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und des IAB bei einem Webinar aus der Reihe „OECD Gesellschaftssalon“.

Viktoria Kis (OECD) und Bernd Fitzenberger (IAB) beschrieben in Impulsvorträgen die aktuelle Situation. Im Anschluss erörterten Leonie Gebers, Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Susanne Müller von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Ralf Becker von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Hubert Ertl vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), ob derzeit eine Krise der dualen Ausbildung besteht. Moderiert wurde die Veranstaltung von Nicola Brandt vom OECD Berlin Centre.

Fitzenberger: Auch wenn es positive Signale gibt, haben wir das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht.

In seinem Eingangsreferat zeigte IAB-Direktor Prof. Bernd Fitzenberger, dass laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber auch im Berichtsjahr 2022/2023 im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen ist. Es gebe einen Übergang von einem Stellenanbietermarkt zu einem Bewerbermarkt.

Die Nichtbesetzungsquote von Ausbildungsstellen nach Ergebnissen einer IAB-Betriebsbefragung ist von 15 Prozent im Jahr 2010 auf mehr als 25 Prozent im Jahr 2021 gestiegen. Gleichzeitig liegt die Nichteinmündungsquote der vom BIBB ermittelten institutionell erfassten Ausbildungsinteressierten, die nicht in eine Ausbildung einmünden, immer noch bei rund einem Drittel. Es bestehen also massive Passungsprobleme und in der Folge erhebliche ungenutzte Potenziale, konstatierte Fitzenberger. Dass die Zahl der jungen Menschen ohne Berufsabschluss zugenommen habe, sei allerdings auch auf die Zuwanderung zurückzuführen.

Eine Ausbildungsgarantie erscheine zwar bei einem Bewerbermangel zunächst als paradox, so Fitzenberger. Sie könne aber mehr junge Menschen an eine berufliche Ausbildung heranführen und auf diese Weise eine Entscheidungshilfe geben. Leistungsschwächere junge Menschen könnten mit einer Ausbildungsgarantie erfolgreicher in eine berufliche Ausbildung integriert werden. Dabei ist zu erwarten, dass aus einer betriebsnahen überbetrieblichen Ausbildung mittelbar Eintritte in eine betriebliche Ausbildung erfolgen. Insgesamt sei eine Ausbildungsgarantie als ein Puzzleteil zur Bekämpfung der Ausbildungskrise und zur Fachkräftesicherung zu betrachten.

Kis: Junge Menschen für die Berufsausbildung zu gewinnen, ist eine gemeinsame Herausforderung unter allen OECD-Ländern.

Viktoria Kis wies darauf hin, dass die Zahl der Auszubildenden nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern wie Österreich, der Schweiz oder dem Vereinigten Königreich deutlich zurückgegangen ist.

Andererseits sei es beispielsweise in Frankreich und Dänemark gelungen, die Zahl der Auszubildenden zu erhöhen. In Frankreich wurde im Jahr 2020 zusätzlich zu den bereits zuvor bestehenden finanziellen Anreizen für die Betriebe eine großzügige staatliche Unterstützung in Höhe von 5.000 Euro pro Auszubildenden eingeführt. Bei Erwachsenen betrug sie sogar 8.000 Euro, so Kis. Im Jahr 2023 seien die Regelungen dann noch einmal etwas modifiziert worden.

Generell gelte es bei internationalen Vergleichen zu beachten, dass die Ausbildungssysteme in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ausgestaltet seien, erklärte Kis. Für die Attraktivität der Berufsausbildung sei auch wichtig, inwieweit damit Übergänge in eine hochschulische Bildung nach dem Abschluss der Ausbildung eröffnet werden. Als in Schweden der Zugang zu einem Universitätsstudium nach einer abgeschlossenen Ausbildung eingeschränkt wurde, sei die Zahl der Auszubildenden deutlich zurückgegangen. Die Reform ist daraufhin wieder rückgängig gemacht worden, berichtete Kis.

Gebers: Jede und jeder, die oder der eine Ausbildung machen will, kann das auch.

BMAS-Staatssekretärin Leonie Gebers wies darauf hin, dass die Bundesregierung in der Corona-Krise ein Programm zur Stabilisierung des Ausbildungsmarktes aufgelegt habe. Im Koalitionsvertrag sei dann eine Ausbildungsgarantie vereinbart worden, mittlerweile liege auch ein entsprechend ausgearbeitetes Konzept vor.

Bei der Ausbildungsgarantie nannte Gebers vier Elemente: Die berufliche Orientierung müsse früher anfangen und verstärkt Praktika einschließen. Die regionale Mobilität werde bezuschusst, weil erhebliche regionale Ungleichgewichte bestehen. Die betriebliche Ausbildung soll durch Einstiegsqualifizierung und assistierte Ausbildung noch besser vorbereitet und begleitet werden. Als Ultima Ratio bestehe ein Rechtsanspruch auf eine außerbetriebliche Ausbildung, wenn kein betrieblicher Ausbildungsplatz gefunden werde. Dabei bleibe natürlich das Ziel, den Übergang in eine betriebliche Ausbildung zu ermöglichen, so Gebers.

Müller: Duale Ausbildung ist nach wie vor ein Erfolgsmodell.

Es gebe eine Vielzahl an Gründen, wenn es nicht gelinge, junge Menschen in Deutschland für die duale Ausbildung zu begeistern, betonte Susanne Müller von der BDA. Ein Faktor sei, dass die Vielzahl an verfügbaren Informationen die jungen Menschen zum Teil überfordere. Die Berufsorientierung sei daher ein Schlüsselelement in der jetzigen Situation. Sie müsse in allen Schulen frühzeitig stattfinden. In diesem Zusammenhang begrüßt die BDA auch das geplante Berufsorientierungspraktikum, so Müller. Denn die praktische Erfahrung in den Betrieben habe einen starken Mehrwert gegenüber der abstrakten Darstellung von Berufen.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist laut Müller die bereits angesprochene Förderung der regionalen Mobilität. Teilweise würden sogar direkt nebeneinander liegende Regionen große Unterschiede bezüglich des Verhältnisses von Ausbildungsplatzsuchenden zu angebotenen Ausbildungsstellen aufweisen. Der geplante Mobilitätszuschuss sei in der Tat wichtig.

Die außerbetrieblichen Angebote sieht Müller dagegen angesichts vieler unbesetzter Ausbildungsplätze eher kritisch: Die Ausweitung dieser Angebote könne in Konkurrenz zu den dualen Ausbildungsangeboten stehen. Sehr sinnvoll sei dagegen wiederum das Instrument der Assistierten Ausbildung: Studien würden zeigen, dass bis zu 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler das Mindestkompetenzniveau nicht erreichen. Sie müssen infolgedessen während der Ausbildung unterstützt werden.

Ertl: Höhere Berufsbildung ist zu wenig bekannt.

Hubert Ertl, Forschungsdirektor und Ständiger Vertreter des Präsidenten im BIBB, zeigte sich fasziniert von den vielen Fragen und Anmerkungen aus dem Chat. Das dort angesprochene Thema des Verhältnisses von schulischen Ausbildungen zu betrieblichen Ausbildungen in Deutschland hält auch er für wichtig. In Deutschland gebe es allerdings keine Steuerungsmechanismen, wer wohin gehe.

Bei der Frage, ob die duale Ausbildung nach wie vor eher ein Erfolgsmodell sei oder zum Krisenfall geworden ist, erklärte Ertl, dass die Wahrheit hier, wie so oft, irgendwo dazwischen liege. Wichtig sei, dass es viele attraktive Möglichkeiten gebe, durch Weiterbildung die Karriere nach der Erstausbildung fortzusetzen. Zudem ist laut Ertl darauf zu achten, dass das Berufsbildungssystem innovativ bleibt. Es gäbe eine Innovationskraft im System, die zu fördern und zu unterstützen sei. Dann könne man auch optimistisch in die Zukunft sehen.

Becker: Wir brauchen einen Pakt für die Berufsbildenden Schulen.

Ralf Becker von der GEW hob hervor, dass sich die Berufsbildung an die Bedürfnisse der jungen Menschen und der Betriebe anpassen kann. Er würde daher nicht davon sprechen, dass das duale System in der Krise sei. Im Zusammenhang mit der Frage, wie man junge Menschen mit Fluchterfahrung ansprechen und für die Berufsausbildung gewinnen kann, betonte er auch den Aspekt einer attraktiven Ausbildungsvergütung.

Die Forderung nach einer verstärkten Berufsorientierung sei grundsätzlich richtig, greife aber zu kurz, so Becker. Berufsorientierung sollte bereits in der Sekundarstufe I im Rahmen einer „Arbeits- und Lebensweltorientierung“ vermittelt werden. Dafür werde vielleicht ein eigenes Fach mit zwei, drei oder vier Wochenstunden benötigt, in dem auch Themen wie „Digitalisierung der Wirtschaft“ behandelt werden könnten, erläuterte er. Die Jugendlichen sollten dabei bei ihren Interessen und Lebensentwürfen abgeholt werden.

Darüber hinaus würde Becker gerne die Assistierte Ausbildung als Regelinstrument implementiert und auskömmlich finanziert sehen. Für wichtig hält er auch eine gesetzliche Verankerung der Jugendberufsagenturen. Zudem müssten die berufsbildenden Schulen gestärkt werden. Er plädierte zudem dafür, den Zugang in das Lehramt an beruflichen Schulen für beruflich Qualifizierte im Rahmen eines entsprechenden Studienangebots auszubauen. Die beruflichen Schulen müssten außerdem besser ausgestattet und in vielen Fällen auch baulich saniert werden.

 

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20230602.01

Bellmann, Lutz (2023): Krise der dualen Ausbildung?, In: IAB-Forum 2. Juni 2023, https://www.iab-forum.de/krise-der-dualen-ausbildung/, Abrufdatum: 20. April 2024