„Industrie 4.0“ ist unterm Strich weder ein Jobmotor noch ein Jobkiller. Allerdings wird es durch die Digitalisierung der Industrie zu erheblichen Arbeitsplatzverschiebungen zwischen einzelnen Branchen und Berufsfeldern kommen. Um diesen Transformationsprozess zu gestalten, sind Bildung und Weiterbildung wichtiger denn je.

Die neueste Welle des technologischen Fortschritts wird intensiv unter dem Namen „Industrie 4.0“ diskutiert. Nach den bisherigen drei industriellen Revolutionen – ausgelöst durch die Dampfmaschine, die Massenfertigung und die Mikroelektronik – geht es nunmehr um die Vernetzung der virtuell-digitalen und der physischen Welt sowie um maschinelles Lernen in der Produktion. Diese digitale Revolution betrifft nicht nur Maschinen, Produkte sowie Informations- und Kommunikationssysteme, sondern auch den Menschen selbst, der sowohl als Produzent wie als Konsument in unterschiedlichster Art und Weise mit der Technik interagiert. Dabei soll die Wertschöpfungskette, auch über Betriebsgrenzen hinaus, vollständig digital gesteuert werden beziehungsweise sich selbst steuern – mit dem Ziel einer effizienteren, flexibleren und individuelleren Produktion.

Derzeit wird intensiv debattiert, welche Folgen dieser Prozess für die Zukunft der Arbeit hat. Während die einen massive Jobverluste befürchten, weil viele Berufe durch vernetzte Roboter überflüssig zu werden drohen, erhoffen sich andere große Beschäftigungs- und Innovationsgewinne sowie bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten.

Technologischer Fortschritt ist so alt wie die Menschheit

Technologischer Fortschritt ist so alt wie die Menschheit und zumindest bisher ist uns die Arbeit nicht ausgegangen. Natürlich, nur allzu leicht tendiert jede Generation dazu, das vor ihr Liegende als qualitativen Sprung zu deuten, der alle bisherigen Gesetze und Reaktionsmuster obsolet macht. Freilich lagen sie damit in aller Regel falsch. Oder glauben wir wirklich, dass der technologische Fortschritt gerade jetzt damit beginnt, Arbeit massenhaft zu reduzieren, während er das über Jahrtausende nicht getan hat? Andererseits dürfen wir es uns auch nicht zu leicht machen: So führte die Rationalisierung von herkömmlicher Fabrikarbeit seit den 1970er Jahren dazu, dass vor allem Jobs für Geringqualifizierte massenhaft wegfielen und die strukturelle Arbeitslosigkeit in diesem Segment stark zunahm.

Dies macht deutlich: Für eine umfassende Bewertung der ökonomischen Wirkungen von Industrie 4.0 müssen wir eine Vielzahl von Effekten berücksichtigen: Ein Teil der bisherigen Arbeitsplätze verschwindet, neue entstehen. Viele Anforderungen ändern sich, Prozesse werden effizienter, neue Produkte kommen auf den Markt. All dies beeinflusst auch die volkswirtschaftlichen Kreislaufzusammenhänge: (Arbeits-)Angebot und Nachfrage passen sich an, Preis- und Mengenreaktionen sind die Folge.

Diese vielfältigen Wechselwirkungen sind Gegenstand einer Studie, die das IAB im Jahr 2015 gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung und der Gesellschaft für wirtschaftliche Strukturforschung vorgelegt hat. Kern dieser Studie ist ein komplexes gesamtwirtschaftliches Modell, mit dem Szenarien für die Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Beschäftigung berechnet werden. Bei diesem Modell handelt es sich um das sogenannte Q-INFORGE-Modell, das im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts „Qualifikation und Beruf“ (www.qube-projekt.de) entwickelt wurde und in einem von Gerd Zika und Tobias Maier herausgegebenen Band der Reihe „IAB-Bibliothek“ näher beschrieben ist. Es verbindet eine umfassende makroökonomische Betrachtung mit einem detailliert abgebildeten Arbeitsmarkt.

In diesem Modell werden Arbeitsangebot und -nachfrage nach Branchen, Berufen und Qualifikationen aufgeschlüsselt, berufliche Flexibilität (also Berufswechsel) zugelassen und Rückwirkungen berücksichtigt, die sich aus bestimmten Lohn- und Preisreaktionen ergeben. Als Ausgangspunkt dient ein Basisszenario, in dem unterstellt wird, dass der technologische Fortschritt in üblichem Tempo voranschreitet. Aus den daraus abgeleiteten Basisprojektionen ergibt sich bis zum Jahr 2030 eine steigende Arbeitsnachfrage ausschließlich im Bereich akademischer Qualifikationen. Nach der aus dem Modell absehbaren Entwicklung wird das mit der Studierneigung deutlich wachsende Angebot aber nicht vollständig vom Arbeitsmarkt aufgenommen. Engpässe traten demnach jedoch im mittleren Qualifikationsbereich auf, weil das Angebot vor allem demografisch bedingt stärker sinkt als der Arbeitskräftebedarf.

Es wird zu deutlichen Verschiebungen zwischen Berufsfeldern und Wirtschaftszweigen kommen

Der niedrigqualifizierte Bereich schrumpft laut Basisprojektion insgesamt leicht, die Unterbeschäftigungssituation entspannt sich aber nicht. Die Engpasse am Arbeitsmarkt verschärfen sich durch den demografischen Wandel vor allem im Gesundheits- und Pflegebereich, aber auch in typischen Produktionsberufen. In diesem Basisszenario ist das Phänomen „Industrie 4.0“ freilich noch nicht abgebildet. Um dies zu erreichen, müssen zahlreiche weitere Faktoren in das Modell integriert und quantifiziert werden. Das Projektteam hat zu diesem Zweck eine umfangreiche Literaturstudie betrieben, Interviews mit Unternehmensvertretern geführt und eigene ökonomische Analysen erstellt. Eine weitere repräsentative Betriebsbefragung wurde mittlerweile durchgeführt. Im Ergebnis wurden Szenarien berechnet, die sich auf die Komponenten Investitionen, Produktivität, Berufe und Tätigkeiten sowie Nachfrage erstrecken (siehe Kasten „Ein Industrie-4.0-Szenario“).

Unterm Strich ergibt sich demnach eine zunehmende Wertschöpfung, die bei steigender Produktivität und höheren Anforderungen an die Beschäftigten vor allem in wachsenden Lohnsummen resultiert. Die Zahl der Beschäftigten ändert sich nicht gravierend; in der Summe ist Industrie 4.0 weder eine Jobmaschine noch ein Jobkiller. Eine Ebene darunter dürfte es allerdings zu deutlichen Verschiebungen kommen, denn in vielen Berufsfeldern und Wirtschaftszweigen gehen durch die Digitalisierung weit mehr Jobs verloren als im Basisszenario prognostiziert. Dabei summieren sich die zusätzlichen Verluste binnen zehn Jahren auf 490.000 Arbeitsplätze. Zugleich werden aber an anderer Stelle 430.000 Arbeitsplätze neu geschaffen.

Durch Industrie 4.0 wird der Bedarf an Akademikern steigen

Zu den Verlierern gehören vor allem Berufe im produzierenden Bereich, beispielsweise Maschinen und Anlagen steuernde und wartende Berufe. In einer Reihe von Berufshauptfeldern und speziell bei Dienstleistungen gibt es dagegen Gewinne, die höchsten bei IT- und naturwissenschaftlichen Berufen. Bezogen auf Qualifikationsstufen gewinnt der akademische Bereich, während die wesentlichen Verluste im berufsbildenden Bereich auftreten. Auch die Nachfrage nach Niedrigqualifizierten dürfte durch die digitale Revolution etwas stärker zurückgehen als im Basisszenario prognostiziert.

Insgesamt zeigt sich, dass die Wirkung von Industrie 4.0 sogar zu einem gewissen Ausgleich der Ungleichgewichte führen kann, die sich im Basisszenario abzeichnen, denn die Engpässe im berufsbildenden Bereich der Industrie werden tendenziell gemildert. Für das stark steigende Angebot im akademischen Bereich entsteht dagegen zusätzliche Nachfrage. Um die Wirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt einschätzen zu können, muss also neben den Änderungen des Arbeitskräftebedarfs auch die Entwicklung des Arbeitskräfteangebots berücksichtigt werden, was in der aktuellen Debatte mitunter zu kurz kommt.

Dieses scheinbar so elegante Ergebnis soll aber keine Entwarnung signalisieren. Die schwierige Arbeitsmarktsituation von Geringqualifizierten wird sich demnach weiter verschlechtern. Obwohl auch in diesem Bereich positive Beschäftigungsimpulse etwa durch den Einsatz von Assistenzsystemen denkbar sind, dürften arbeitsangebotsseitige Maßnahmen wie eine stärkere Qualifizierung dieser Personengruppe künftig wichtiger denn je sein.

Hinter den begrenzten gesamtwirtschaftlichen Wirkungen des Phänomens Industrie 4.0 verbergen sich auf betrieblicher und politischer Ebene daher bedeutende Herausforderungen. Denn die mit diesem Prozess einhergehenden Strukturverschiebungen und Veränderungen von Arbeitsplätzen sind erheblich. Eine zentrale Rolle kommt Bildung und Weiterbildung zu. Dabei liegt es nahe, insbesondere die digitalen Inhalte zu stärken. Es wird jedoch mindestens ebenso  wichtig sein, Kompetenzen wie konzeptionelles Denken, Abstraktions- und Kommunikationsfähigkeit zu vermitteln. Wenn die Anforderungen stetig steigen, ist neben einer soliden Erstausbildung auch lebenslange Weiterbildung erforderlich. Hier kommt es auch darauf an, die gerade in Deutschland deutlich sichtbaren Vorteile formaler Qualifikation mit flexiblem Kompetenzerwerb zu verbinden. Die Anerkennung von zusätzlichen Qualifizierungsleistungen auf breiter Basis zu koordinieren, ist hier ein Weg.

Mit Industrie 4.0 müssen neue Gestaltungsspielräume genutzt werden

Mit der Digitalisierung entstehen neue Tätigkeitsprofile. Deutschland muss hier im internationalen Wettbewerb seine spezifischen Stärken ausspielen. So richtig offensichtlich ein stärkerer Fokus auf die Hochschulausbildung ist, so klar liegen unsere Stärken im berufsbildenden System und seiner Verzahnung von Theorie und Praxis. Eine aktive– und nicht nur reaktive – Politik entwickelt diese Stärken gezielt weiter, um Menschen aus- und weiterzubilden, die die Umsetzung von Industrie 4.0 in den Betrieben in die Hand nehmen können.

Wenn Produktions-, Wissens- und Entwicklungsarbeit weiter zusammenwachsen und hierarchische Steuerung zurückgeht, ergeben sich Gestaltungsspielräume, in die auch der berufsbildende Bereich hineinwachsen kann. Hochwertige Beschäftigung ist in der Umsetzung von Industrie 4.0 nur dann ein zukunftsträchtiges Geschäftsmodell, wenn Personal zu Verfügung steht, das die neuen verantwortungsvollen Tätigkeiten auch wahrnehmen kann. Denkbar wäre etwa, die Attraktivität der beruflichen Ausbildung durch eine Art „Meister-Tenure-Track“ zu erhöhen, also einen integrierten Ausbildungsweg bis zum Meister, und diesen Grad mit weiteren Kompetenzen gezielt  zu stärken. Dazu gehören Prozessverständnis, Innovationsdenken und grundsätzliche Fähigkeiten im Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen.

Zugleich sollte der für Deutschland prägende Mittelstand im Hinblick auf die Digitalisierung unterstützt werden. Gerade hier liegen bisherige Stärken, aber möglicherweise auch zukünftige Risiken, wenn die Kapazität einzelner Mittelständler für den Aufbruch zu neuen digitalen Geschäftsmodellen nicht ausreichen sollte. Eine wichtige Rolle kommt dabei der öffentlichen Investitionsförderung zu, ebenso der Information und Koordinierung beispielsweise durch die Definition von Kompetenzstandards.

Fazit

Auch die Arbeitsmarktpolitik muss sich auf neue Entwicklungen einstellen. Derzeit liegt das Entlassungsrisiko auf einem Rekordtief, was den Arbeitsmarktaufschwung wesentlich begünstigt. Die Arbeitsmarktdynamik wird nach den hier präsentierten Szenarien aber deutlich zunehmen– und damit auch die Zugänge in Arbeitslosigkeit. Wenn sich der strukturelle und berufliche Wandel verstärkt, kommt der Weiter- und Neuqualifizierungsberatung wachsende Bedeutung zu. Denn künftig kommt es stärker denn je darauf an, möglichst frühzeitig und fundiert zu entscheiden, ob eine Vermittlung im bisherigen Tätigkeitsfeld, eine Weiterentwicklung oder eine Neuorientierung im Einzelfall der richtige Weg ist.

Man sollte dabei vorgewarnt sein: Wie bereits erwähnt, gelang es während des strukturellen Wandels seit den 1970er Jahren nicht, Aufbau und Verfestigung der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Weitere Bereiche wie der Arbeits- und Gesundheitsschutz, die betriebliche Mitbestimmung, die soziale Sicherung und der Datenschutz werden sich ebenfalls neuen Herausforderungen gegenübersehen. Während das hier beschriebene Szenario auf die Industrie abstellt, ergeben sich darin bereits jetzt auch für den Dienstleistungsbereich deutliche Effekte der Digitalisierung.

Ein Industrie-4.0-Szenario

Zunächst werden für die Umsetzung von Industrie 4.0 erhebliche Investitionen in Ausrüstungen nötig sein. Dafür werden Umrüstungen sowie Investitionsaufschläge betrachtet, die wesentliche Veredelungen durch digitale Systeme umfassen. Im Bereich der Bauinvestitionen werden Ausgaben für schnelles Internet eingeplant. Bei Material- und Personalaufwendungen gehen wir von deutlichen Mehrkosten bei Weiterbildung und Beratungsleistungen aus. Schließlich wird über zehn Jahre eine Verdopplung des Digitalisierungsgrades der Produktionsketten modelliert, mit entsprechenden Ausgaben für IT-Dienstleistungen. Alle diese Annahmen schlagen sich auf der Kostenseite nieder. Die Idee ist nun, über eine dynamische Investitionsrechnung die Effizienzsteigerungen im Produktionsprozess zu kalkulieren, die notwendig sind, um auf eine gute unternehmerische Rendite der Investitionen in Industrie 4.0 zu kommen. So werden die Auswirkungen der technologischen Umwälzung auf der Kosten- und Ertragsseite im Zusammenhang volkswirtschaftlich fundiert. Auf dieser Basis ergeben sich Verbesserungen der Materialaufwandsquoten und der Arbeitsproduktivität von jeweils 1,2 Prozent innerhalb von zehn Jahren gegenüber dem Basisszenario. Weiterhin wird berücksichtigt, dass die technologischen Änderungen zusätzlich zu den modellendogen weiter wirkenden Mechanismen Auswirkungen auf den Bedarf an bestimmten Tätigkeiten haben. Konkret wird davon ausgegangen, dass Berufe mit hohen Anteilen von Routinetätigkeiten im Zuge der Digitalisierung verlieren und andere gewinnen. Verwendet werden dabei Ergebnisse einer Studie von Katharina Dengler und Britta Matthes aus dem Jahr 2015 auf Basis der BA-Expertendatenbank „BERUFENET“. Durch die Strukturverschiebungen hin zu höher bezahlten Berufen ergeben sich zusätzliche Lohnkosten von 0,9 Prozent. Im Szenario steigern diese im Sinne der Wirtschaftlichkeit und der Orientierung von Löhnen an der Produktivität die Arbeitsproduktivität zusätzlich. Zuletzt ist auch die Güternachfrage zu betrachten. Bei der Auslandsnachfrage wird von einer starken Position der deutschen Industrie im Maschinenbau und in der Sensorik ausgegangen (im Gegensatz zu Big Data). Im Szenario einer durchgreifenden Umsetzung von Industrie 4.0 ergibt sich daraus ein durchschnittlicher Vorsprung gegenüber dem Ausland, der sich in zusätzlichem Export niederschlägt –parallel zu den ausländischen Investitionssteigerungen. Bei der inländischen Endnachfrage wird ein moderates Plus angenommen, das mit zusätzlichem Konsumbedarf begründet werden kann, der sich aus stärkerer Individualisierung und Vernetzung ergibt.

 Dieser Beitrag ist erstmals in Ausgabe 1/2016 des Printmagazins „IAB-Forum“ erschienen (S. 92-97).

 

Literatur

Dengler, Katharina; Matthes, Britta (2015): Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt: Substituierbarkeitspotenziale von Berufen in Deutschland. IAB-Forschungsbericht Nr. 11.

Weber, Enzo (2015): Industrie 4.0 – Wirkungen auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt. In: Wirtschaftsdienst, 95, 11, S. 722-723.

Wolter, Marc Ingo; Monnig, Anke, Hummel, Markus; Schneemann, Christian; Weber, Enzo; Zika, Gerd; Maier, Tobias; Neuber-Pohl, Caroline; Helmrich, Robert (2015): Industrie 4.0 und die Folgen fur Arbeitsmarkt und Wirtschaft. Szenariorechnungen im Rahmen der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen. IAB-Forschungsbericht Nr. 8.

Zika, Gerd; Maier, Tobias (Hg.) (2015): Qualifikation und Beruf in Deutschlands Regionen bis 2030. Konzepte, Methoden und Ergebnisse der BIBB-IAB-Projektionen. IAB-Bibliothek 353, Bielefeld: Bertelsmann.

 

Weitere Informationen:

IAB-Infoplattform „Digitale Arbeitswelt – Chancen und Herausforderungen für Beschäftigte und Arbeitsmarkt“

IAB-Infoplattform  „Arbeit 4.0 und Gender – Mehr Geschlechtergerechtigkeit durch flexible Arbeitsmodelle?“