Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die weltweite Wirtschaftsentwicklung stark belastet. Zugleich liegt aber der Arbeitskräftebedarf in Deutschland auf Rekordniveau. Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am IAB, spricht im Interview über die aktuelle IAB-Prognose zur Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt.

Herr Weber, der Winter ist vorbei, die Gaspreise sind wieder gesunken, eine neue Corona-Welle nicht zu erwarten. Wird sich die deutsche Wirtschaft jetzt erholen?

Portraitfoto Prof. Enzo Weber

Prof. Dr. Enzo Weber leitet den Forschungsbereich “Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen” am IAB.

Davon gehe ich aus. Weil sich die Wirtschaft zu Beginn dieses Jahres in der Talsohle befunden hat, wird das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt zwar stagnieren. Aber im Jahresverlauf rappelt sich die Konjunktur wieder auf.

Eigentlich wäre damals nach dem Auslaufen der coronabedingten Eindämmungsmaßnahmen schon ein deutlicher Konjunkturaufschwung zu erwarten gewesen.

Das stimmt. Doch der ist infolge der Auswirkungen des russischen Ukraine-Kriegs und der damit einhergehenden Energiekrise ausgefallen. Der Inflationsdruck hat die Kaufkraft geschmälert, und auch die Sorgen um eine bezahlbare Energieversorgung haben zu Kaufzurückhaltung geführt. Die Inflation dürfte aber zu Beginn dieses Jahres den Höhepunkt erreicht haben. Die inzwischen wieder gesunkenen Energiepreise entlasten die energieintensiven Bereiche. Dass die Liefer- und Materialengpässe nachlassen, erleichtert es den Betrieben, den hohen Auftragsbestand abzuarbeiten.

Also hat Deutschland die Energiekrise überstanden?

Zumindest deutet alles darauf hin, dass die deutsche Wirtschaft die konjunkturellen Folgen der Energiekrise insgesamt recht gut übersteht. Strukturell ist die Herausforderung der Transformation aber enorm.

Auch bestehen kurzfristig Risiken. Zusätzliche geopolitische Verwerfungen könnten zu weiteren wirtschaftlichen Beeinträchtigungen führen. Würde die Inflation weiter steigen, wären noch deutlichere Zinserhöhungen durch die Zentralbanken nötig. Dadurch würden die Binnennachfrage, die Investitionstätigkeit und die Produktion in Mitleidenschaft gezogen. Und auch die Risiken im Bankensystem könnten zunehmen. Wir gehen in dieser Prognose davon aus, dass sich aus den Schwierigkeiten einiger mittelgroßer US-Banken und der schon länger bekannten Problemlage der Credit Suisse nach der Übernahme keine systemischen Effekte ergeben. Mögliche Kettenreaktionen kann aber aktuell niemand ausschließen.

Der Arbeitsmarkt ist trotz des Dämpfers stabil geblieben.

Was ist Ihre Prognose für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in diesem Jahr?

Der Arbeitsmarkt ist trotz des Dämpfers stabil geblieben. Die Entlassungen bewegen sich auf niedrigem Niveau, die Kurzarbeit ist nur leicht gestiegen und der Bedarf an Arbeitskräften bleibt hoch.

Die Zahl der Arbeitslosen wird im Jahresdurchschnitt um 110.000 Personen steigen, unter anderem aufgrund der Registrierung ukrainischer Geflüchteter in der Grundsicherung. Auch nach dem Auslaufen von Integrationskursen münden etliche dieser Personen zunächst in Arbeitslosigkeit. Angesichts der Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarkts gibt es aber gute Grundbedingungen dafür, dass viele von ihnen im Lauf des Jahres eine Beschäftigung finden werden. Wichtig sind dabei das Erlernen der deutschen Sprache und Unterstützung bei der Kinderbetreuung.

Sowohl die Zahl der Erwerbstätigen als auch die der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erreicht neue Höchststände.

Wie wird sich voraussichtlich die Beschäftigung entwickeln?

Angesichts der gestiegenen Arbeitskräfteknappheit versuchen viele Betriebe, ihre Beschäftigten selbst in konjunkturellen Schwächephasen zu halten. Die grundsätzliche Stabilität kommt dem Arbeitsmarkt auch bei der Verarbeitung des wirtschaftlichen Schocks infolge des Ukraine-Kriegs zugute. Wir erwarten trotz der dämpfenden Effekte grundsätzlich einen weiteren Aufwärtstrend bei der Beschäftigung. Sowohl die Zahl der Erwerbstätigen als auch die der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erreicht neue Höchststände. Dabei rechnen wir für die meisten Wirtschaftsbereiche mit einem Beschäftigungsaufbau, für manche mit einer Stagnation. Nur im Bereich Erbringung von Finanz- und Versicherungsleistungen erwarten wir für 2023 aufgrund von Konsolidierungsmaßnahmen sowie der fortschreitenden Digitalisierung einen leichten Rückgang.

Der Arbeitskräfteknappheits-Index des IAB steht auf Rekordniveau.

Nach der Corona-Krise und der Energiekrise könnte damit wohl das Fehlen von Fachkräften zum größten Problem der Wirtschaft werden. Sie schreiben, es herrsche jetzt schon die größte Arbeitskräfteknappheit seit dem Wirtschaftswunder. Können Sie das näher beziffern?

Wir sehen gerade zunehmend Personalengpässe in vielen Bereichen. In der Pflege wächst der Arbeitskräftebedarf aufgrund der Alterung der Bevölkerung, in der Erziehung mit dem Kita-Ausbau, im Handwerk unter anderem wegen der Energiewende und in der IT im Zuge der Digitalisierung. Engpässe bestehen jetzt auch in Branchen, die am stärksten von der Corona-Krise betroffen waren und nun wieder Personal aufbauen wollen, etwa die Gastronomie. Der Arbeitskräfteknappheits-Index des IAB steht auf Rekordniveau, ebenso die Zahl an offenen Stellen mit knapp zwei Millionen.

Und der jetzt schon eklatante Mangel an Arbeitskräften wird künftig noch zunehmen?

Allerdings. Die akute Personalmangellage in den Corona-betroffenen Branchen wird sich mit etwas mehr Zeit zwar wieder stärker entspannen. Aber die grundsätzliche Arbeitskräfteknappheit wird sich noch verschärfen, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Ohne jeglichen Ausgleich wie durch Migration und steigende Erwerbsbeteiligung würde das Erwerbspersonenpotenzial bis 2035 aus rein demografischen Gründen gegenüber 2021 um knapp sieben Millionen zurückgehen. Selbst wenn wir Ausgleichsmechanismen berücksichtigen, gelangt die Langfristprojektion des IAB zu dem Ergebnis, dass das Arbeitskräfteangebot bis 2040 immer noch um rund 1,1 Millionen sinken dürfte. Deshalb ist es zentral, weitere Potenziale für den Arbeitsmarkt zu nutzen.

Welche sind das?

Wir müssen versuchen, Ältere länger im Job zu halten, die berufliche Entwicklung von Frauen zu stärken und die Arbeitslosigkeit weiter zu reduzieren. Die Zuwanderung sollten wir mit einer offenen Migrationspolitik fördern und die Integration der Zugewanderten in Deutschland verbessern. Bei Arbeitskräfteknappheit kommt es auch besonders auf Produktivitätssteigerungen an, vor allem über Investitionen in die Qualifizierung der Beschäftigten und in Technologie wie intelligente Digitalisierung.

Literatur

Anja Bauer, Hermann Gartner, Timon Hellwagner, Markus Hummel, Christian Hutter, Susanne Wanger, Enzo Weber und Gerd Zika (2023): IAB-Prognose 2023: Rekord-Arbeitskräftebedarf in schwierigen Zeiten. IAB-Kurzbericht Nr. 5.

doi: 10.48720/IAB.FOO.20230324.01

 

Keitel, Christiane (2023): IAB-Prognose 2023: Konjunktur durchschreitet die Talsohle, Beschäftigung erreicht neue Höchststände, In: IAB-Forum 24. März 2023, https://www.iab-forum.de/iab-prognose-2023-konjunktur-durchschreitet-die-talsohle-beschaeftigung-erreicht-neue-hoechststaende/, Abrufdatum: 20. April 2024