Ukraine-Krieg, steigende Energie- und Rohstoffpreise, Sanktionen, Materialengpässe und höhere Leitzinsen: Die Unwägbarkeiten für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland sind immens. Gleichwohl erwartet das IAB keinen größeren Einbruch am Arbeitsmarkt. Professor Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am IAB, spricht im Interview über die aktuelle IAB-Prognose zur Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt.

Was ist Ihre Prognose für die Beschäftigungsentwicklung?

Enzo Weber: Wir erwarten keinen Einbruch des deutschen Arbeitsmarktes infolge des Krieges gegen die Ukraine, aber dämpfende Effekte. Die Energiekrise hat schon kurzfristig nicht nur die Produktion gesenkt, sondern auch die Schaffung neuer Stellen beeinträchtigt, wenn auch noch moderat. Die hohe Inflation wird sich zudem negativ auf die Entwicklung in beschäftigungsintensiven Dienstleistungsbereichen auswirken. Im Jahresdurchschnitt 2022 liegt die Zahl der Erwerbstätigen unserer Prognose zufolge um 560.000 Personen über dem Vorjahr. Im nächsten Jahr gehen wir von einem weiteren Anstieg um 220.000 Erwerbstätige aus – ein Rekordniveau trotz aller Widrigkeiten.

Welche Entwicklung erwarten Sie bei der Arbeitslosigkeit?

Die Zahl der Arbeitslosen wird 2022 voraussichtlich um 200.000 Personen sinken, 2023 aber um 60.000 Personen steigen, auch aufgrund der Registrierung ukrainischer Geflüchteter in der Grundsicherung. Große Unsicherheiten bestehen aber vor allem hinsichtlich des Fortgangs des Ukraine-Kriegs.

Porträtfoto von Prof. Dr. Enzo Weber

Prof. Dr. Enzo Weber leitet den Forschungsbereich „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am IAB.

Wo sehen Sie derzeit die größten Risiken für die Konjunktur?

Die Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine belasten die weltwirtschaftliche Entwicklung. So beschränken Sanktionen, Materialengpässe infolge unterbrochener Lieferketten und vor allem steigende Energie- und Rohstoffpreise die wirtschaftlichen Aktivitäten. Hinzu kommen höhere Leitzinsen, wodurch sich die Kreditaufnahme verteuert. Die kräftig steigenden Energiepreise schwächen die Kaufkraft und die Investitionsneigung. Auch wenn es mittlerweile weniger wahrscheinlich geworden ist, dass tatsächlich Energie rationiert werden muss, dürften exorbitante Preissteigerungen die Energiekrise verschärfen – und damit das Risiko einer Rezession.

Inwieweit kann sich der Arbeitsmarkt angesichts dieser Unwägbarkeiten von der konjunkturellen Entwicklung abkoppeln?

Seit der Weltfinanzkrise im Jahr 2009 reagiert die Erwerbstätigkeit in Deutschland wesentlich robuster auf konjunkturelle Schwankungen als davor. Angesichts der gestiegenen Arbeitskräfteknappheit versuchen viele Betriebe, ihre Beschäftigten auch in konjunkturellen Schwächephasen zu halten. Dies zeigte sich auch während des plötzlichen und massiven Einbruchs der Wirtschaftsleistung in der Corona-Krise. Er setzte den Arbeitsmarkt zwar massiv unter Druck, aber gestützt durch Kurzarbeit stabilisierte sich die Beschäftigung schnell. Wir erwarten, dass die grundsätzliche Stabilität dem Arbeitsmarkt auch bei der Verarbeitung des wirtschaftlichen Schocks infolge des Ukraine-Kriegs zugutekommt.

Aktuell ist der Arbeitsmarkt durch Personalengpässe in vielen Bereichen geprägt. Zusätzlich zu Bereichen wie Pflege, Erziehung, Handwerk und IT bestehen solche Engpässe jetzt zudem in Branchen, die am stärksten von der Corona-Krise betroffen waren, etwa in der Gastronomie, in der Hotellerie und im Luftverkehr. Der Arbeitskräfteknappheits-Index des IAB steht auf Rekordniveau. Diese Personallücken zeigen einen Nachholbedarf, nachdem es über lange Zeit deutlich weniger Neueinstellungen gab. Die akute Personalmangellage in den Corona-Branchen dürfte sich in naher Zukunft zwar wieder etwas entspannen. Die grundsätzliche Arbeitskräfteknappheit wird sich aber mit der Verrentung der Babyboomer sicherlich verschärfen. Dennoch dämpft die schwierige wirtschaftliche Situation die Beschäftigungsentwicklung, auch wenn wir keinen größeren Einbruch am Arbeitsmarkt erwarten.

Derzeit melden sich vermehrt Geflüchtete aus der Ukraine arbeitslos. Wie beurteilen Sie deren Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt?

Auch wenn Fluchtmigration zunächst höhere Arbeitslosigkeit mit sich bringt, kann sie perspektivisch das Erwerbpersonenpotenzial erhöhen. Aktuell sind bei den Jobcentern rund 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer arbeitslos gemeldet. Unsicher ist, wie lange deren Aufenthalt in Deutschland dauern wird. Der Übergang in Beschäftigung wird Schritt für Schritt erfolgen. Die im Sommer registrierte Arbeitslosigkeit der ukrainischen Geflüchteten wird entsprechend wieder zurückgehen. Hierbei spielt vorübergehend auch die Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen vor Aufnahme einer Beschäftigung eine Rolle. Angesichts der Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarkts und der Tatsache, dass diese Menschen oft gut qualifiziert sind, stehen deren Beschäftigungschancen prinzipiell nicht schlecht. Wichtig für die Arbeitsmarktintegration sind aber das Erlernen der deutschen Sprache und die Unterstützung bei der Kinderbetreuung.

Derzeit reiht sich eine Hiobsbotschaft an die andere. Nach verbreiteter Auffassung drohen Deutschland in den kommenden Jahren massive Wohlstandsverluste. Sehen Sie eigentlich auch irgendwelche Lichtblicke?

Kurzfristig wären da das Aufholen nach Corona oder die langsame Entspannung bei den Lieferengpässen zu nennen. Bei hohen wirtschaftlichen Risiken haben aber zugleich die Engpässe an Arbeitskräften stark zugenommen. Dahinter stehen etwa der demografische Wandel, der Nachholbedarf nach einer langen Einstellungsflaute wegen Corona und die zusätzlichen Bedarfe im technischen und handwerklichen Bereich für die Energiewende. Fachkräftesicherung bleibt daher über die aktuelle Energiekrise hinaus langfristig ein zentrales Thema für die wirtschaftliche Entwicklung. Angesichts der Knappheit müssen wir Qualifizierung, Arbeitsbedingungen und Personalentwicklung so gestalten, dass wir die Produktivitätspotenziale am Arbeitsplatz möglichst gut nutzen. Neben den Investitionen in Beschäftigte sind Investitionen in Zukunftstechnologien zentral. So bieten die Digitalisierung und die ökologische Transformation ein großes Innovationspotenzial. Hier eröffnen sich für die Zukunft ganz neue Geschäftsmodelle, die auch die Produktivität unserer Volkswirtschaft steigern können.

Literatur

Gartner, Hermann; Hellwagner, Timon; Hummel, Markus; Hutter, Christian; Wanger, Susanne; Weber, Enzo; Zika, Gerd (2022): IAB-Prognose 2022/2023: Drohende Rezession bremst boomenden Arbeitsmarkt. IAB-Kurzbericht Nr. 15.

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20220923.01

Schludi, Martin (2022): IAB-Prognose 2022/2023: Große Unsicherheiten für weitere wirtschaftliche Entwicklung, aber voraussichtlich robuster Arbeitsmarkt, In: IAB-Forum 23. September 2022, https://www.iab-forum.de/iab-prognose-2022-23-grosse-unsicherheiten-fuer-weitere-wirtschaftliche-entwicklung-aber-voraussichtlich-robuster-arbeitsmarkt/, Abrufdatum: 23. April 2024