Zum 1. Oktober 2022 ist in Deutschland die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde in Kraft getreten.  Eine neue IAB-Studie zeigt nun, dass dieser bundesweit einheitliche Mindestlohn auf große regionale Lohn- und Preisunterschiede trifft.  Ist es deshalb sinnvoll, regional unterschiedliche Mindestlöhne festzulegen? Die Redaktion des IAB-Forums hat dazu die Autoren der Studie, Wolfgang Dauth und Andreas Mense, befragt.

Wolfgang Dauth

Prof. Dr. Wolfgang Dauth leitet den Forschungsbereich “Regionale Arbeitsmärkte” am IAB.

Herr Dauth, Herr Mense: Ein bundesweit einheitlicher Mindestlohn gilt eigentlich als Instrument der Fairness, doch Sie kritisieren ihn. Warum?

Wolfgang Dauth: Es gibt gute Gründe, einen einheitlichen Mindestlohn festzulegen. Mit unserem Beitrag möchten wir jedoch ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es in Deutschland erhebliche regionale Unterschiede bei den Wohnkosten und dem allgemeinen Preisniveau gibt. Diese gehen in der Regel mit Lohnunterschieden einher. München gehört bekanntlich zu den teuersten Städten Deutschland. Andererseits ist dort das Lohnniveau auch vergleichsweise hoch. Beim einheitlichen Mindestlohn werden diese Kaufkraftunterschiede aber nicht berücksichtigt. Dabei kommt man mit einem Stundenlohn von 12 Euro in München weitaus schlechter über die Runden als in anderen Regionen.

In welchen Regionen profitieren die Beschäftigten denn aktuell besonders von der Erhöhung?

Andreas Mense: Besonders in den ländlichen Regionen Westdeutschlands, wie dem Bremer Umland oder der Region Südheide, und in weiten Teilen Ostdeutschlands wurden 2021 noch viele Jobs mit weniger als 12 Euro je Stunde entlohnt. Das heißt aber nicht unbedingt, dass alle diese Beschäftigten von der Mindestlohnerhöhung profitieren werden. Die Firmen könnten auf die Erhöhung auch mit dem Abbau von Beschäftigung reagieren.

Es besteht die Gefahr, dass Unternehmen auf die mindestlohnbedingte Erhöhung ihrer Lohnkosten mit Entlassungen reagieren.

Vor einem solchen Beschäftigungsabbau warnen immer wieder Kritiker des Mindestlohns, ohne dass er bisher eingetreten ist. Sehen Sie bei der aktuellen Lohnerhöhung in diesen Regionen tatsächlich Jobs gefährdet?

Portraitfoto Dr. Andreas Mense

Dr. Andreas Mense ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich “Regionale Arbeitsmärkte” am IAB.

Dauth: Es stimmt, seit der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 haben wissenschaftliche Studien kaum Belege dafür gefunden, dass hierzulande durch den Mindestlohn Jobs abgebaut wurden. Das bedeutet jedoch nicht, dass dies auch bei dieser Erhöhung grundsätzlich ausgeschlossen werden kann – insbesondere in Gegenden, in denen die Erhöhung erheblich ausfällt.

Mense: Das betrifft vor allem Regionen abseits der Ballungszentren, wo die Lebenshaltungskosten und die Löhne niedriger sind. Es besteht das Risiko, dass die Unternehmen in diesen Regionen auf die mindestlohnbedingte Erhöhung ihrer Lohnkosten mit Entlassungen reagieren. Umgekehrt sind in den Ballungszentren weit weniger Jobs von der Mindestlohnerhöhung betroffen. Hier rechnen wir nicht damit, dass diese Jobs verloren gehen, weil dort produktivere Unternehmen angesiedelt sind, die die höheren Löhne auch leichter stemmen können. Durch die aktuell hohe Inflation ist die Gefahr von mindestlohnbedingten Beschäftigungsverlusten grundsätzlich geringer geworden, weil der reale Lohnzuwachs geschrumpft ist.

Ein wesentlicher Vorteil wäre, dass der Mindestlohn genauer an die regionalen Gegebenheiten angepasst werden könnte.

Das heißt aber auch, dass in Ballungszentren deutlich weniger Beschäftigte von der Erhöhung überhaupt profitieren können, trotz höherer Lebenshaltungskosten. Wäre das bei einem regionalen Mindestlohn besser?

Mense: Ja. Ein wesentlicher Vorteil wäre, dass der Mindestlohn genauer an die regionalen Gegebenheiten angepasst werden könnte. Dadurch könnte er in hochpreisigen Regionen wie München deutlich über 12 Euro liegen. In Regionen mit niedrigeren Lebenshaltungskosten und Löhnen könnte er dagegen darunter liegen.

Von welcher möglichen Bandbreite reden wir da?

Dauth: Eine praktikable Möglichkeit wäre, den Mindestlohn mittels eines regionalen Preisindex’ anzupassen. Wir haben das Konzept anhand der aktuellen Erhöhung des Mindestlohnes und einem regionalen Preisindex aus dem Jahr 2016 durchgerechnet, um die prinzipielle Durchführbarkeit zu demonstrieren. Wenn man dabei die Städte und ihr direktes Umland zusammenfasst, kämen wir auf eine Spannweite von 11,07 bis 13,19 Euro. Damit läge er in allen Regionen immer noch höher als vor der Anpassung des Mindestlohns.

Ein regionale Staffelung könnte das Risiko von negativen Beschäftigungseffekten durch den Mindestlohn reduzieren.

Im IAB-Kurzbericht diskutieren Sie nicht nur die Vorteile, sondern auch die Nachteile eines solchen regionalen Mindestlohns. Was überwiegt aus Ihrer Sicht?

Mense: Unser Beitrag ist als Denkanstoß gedacht, dessen Umsetzung jedoch mit Risiken und zusätzlichem Aufwand verbunden wäre. Zunächst müsste das Statistische Bundesamt einen maßgeschneiderten regionalen Preisindex erheben und regelmäßig aktualisieren. Dann müsste geklärt werden, wie man mit nicht ortsgebundenen Tätigkeiten oder überregional aufgestellten Unternehmen umgeht. Außerdem müsste man die Öffentlichkeit von dem Argument überzeugen, dass ein regional variierender Mindestlohn nicht unfair ist, da sowohl die Lebenshaltungskosten als auch die Löhne in der Privatwirtschaft oberhalb der Mindestlohnschwelle ebenfalls regional variieren. Es wäre auch noch genauer zu prüfen, wie hoch der administrative Zusatzaufwand für die Unternehmen wäre, und ob sich der Kontrollaufwand erhöht. Dann wäre aus unserer Sicht ein regional variierender Mindestlohn für zukünftige Anpassungen eine durchaus bedenkenswerte Option.

Dauth: In seiner achtjährigen Geschichte wurde der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland fünfmal angepasst. Es ist also absehbar, dass er auch in Zukunft alle paar Jahre erhöht wird. Vor dem Hintergrund der aktuellen Preissteigerungen könnte die nächste Erhöhung wieder beträchtlich ausfallen, was das Risiko von negativen Beschäftigungseffekten birgt. Mit einem regional variierenden Mindestlohn könnte man dieses Risiko reduzieren.

Literatur

Wolfgang Dauth, Andreas Mense (2022): Einheitlicher Mindestlohn trifft auf große regionale Unterschiede. IAB-Kurzbericht Nr. 21.

 

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20221115.01

Keitel, Christiane (2022): „Beim einheitlichen Mindestlohn werden Kaufkraftunterschiede nicht berücksichtigt“: ein Denkanstoß für einen regionalen Mindestlohn, In: IAB-Forum 15. November 2022, https://www.iab-forum.de/beim-einheitlichen-mindestlohn-werden-kaufkraftunterschiede-nicht-beruecksichtigt/, Abrufdatum: 19. April 2024